Höxter und Corvey - Eine Geschichte
Stadtarchivar Michael Koch, Andreas König, Denkmalpfleger Henning Fischer und Hubertus Grimm beleuchten in einer Serie, die hier auf der Homepage der Stadt Höxter sowie im städtischen Amtsblatt, der Huxaria, veröffentlicht wird, die verschiedenen Stationen der Corveyer Geschichte.
Serie zur Corveyer Geschichte
Thema 1: Karl der Große, Ludwig der Fromme und die Corveyer Gründungsidee
Karl der Große, Ludwig der Fromme und die Corveyer Gründungsidee1- Karl der Große© Stadt HöxterIm 5. Jahrhundert nach Christus entstand auf den Resten des römischen Imperiums im Raum des heutigen Nordfrankreich und des Rhein-Maas-Gebietes ein neues Reich, das seit Chlodwig I., der im Jahr 496 das Christentum annahm, von Königen aus der Dynastie der Merowinger beherrscht wurde. Das Reich der Merowinger dehnte sich bald bis an die Pyrenäen, in den Alpenraum sowie im Nordosten bis nach Thüringen aus. Im 7. Jahrhundert ging die Führung schrittweise an das Geschlecht der Pippiniden, der Nachkommen Pippins, über, die nach Karl Martell (der Hammer, regierte als Hausmeier[1] 714-741) als Karolinger bezeichnet werden.
Der 768-814 regierende Frankenkönig Karl, dem man den Beinamen „der Große" und „Vater Europas" (pater Europae) verlieh, war Sohn Pippins des Jüngeren (regierte als Hausmeier ab 741, als König 751-768) und Enkel Karl Martells. Dabei war es nicht in erster Linie seine Körpergröße, sondern seine Führungskraft und seine kulturellen Leistungen, die ihn dauerhaft im historischen Bewusstsein Europas verankerten. Man hat ihn mit Alexander dem Großen, mit den Kaisern Roms und mit dem Kalifen von Bagdad verglichen. Bis weit in die Neuzeit hinein galt Carolus Magnus als Symbol für Recht und Ordnung. Gegenwärtig stilisiert man ihn erneut zum Gründer Europas und setzt ihn an den Anfang der europäischen Einigungsbestrebungen. Diese Lichtgestalt steht am Anfang der Geschichte Corveys.
Worin bestand nun die eigentliche Gründungsidee für Corvey und welche Rolle spielte Karl der Große dabei? Bald nach der Übernahme der Alleinherrschaft Ende des Jahres 771 nahm Karl die endgültige Unterwerfung der Sachsen in Angriff. Die Sachsen waren im Zuge der Völkerwanderungszeit in Bereiche südlich der Elbe vorgedrungen und beherrschten im frühen 8. Jahrhundert ein Gebiet zwischen Elbe und Ruhrgebiet, das nordöstlich unmittelbar an den fränkischen Herrschaftsraum grenzte. Den Franken galt ihr heidnischer Nachbar als Bedrohung. Während die Integration in das Frankenreich bei den Awaren im Donauraum, den Langobarden in Oberitalien oder bei der Beseitigung des bairischen Herzogtums der Agilolfinger recht schnell gelang, zogen sich die kriegerischen Auseinandersetzungen gegen die Sachsen über mehr als drei Jahrzehnte hin und beanspruchten die Franken über die gewohnten Maße.
1- Ludwig der Fromme© Stadt HöxterDie legendäre Züge annehmende Corveyer Geschichtsschreibung behauptet, dass bereits Karl der Große während der Sachsenkriege den Entschluss gefasst haben soll, ein Musterkloster im Gebiet der Sachsen nach dem Vorbild der bedeutenden fränkischen Abteien wie etwa Corbie in der Picardie/Nordfrankreich zu gründen. Mit Hilfe einer derartigen Abtei konnte es gelingen, den sächsischen Adel in das Frankenreich einzubinden. Konsequenterweise sahen vor allem die Corveyer Benediktinermönche selbst in Karl dem Großen den eigentlichen Schöpfer der Gründungsidee zu ihrem Kloster. In diesen Zusammenhang stellten sie auch die für die Franken erfolgreiche Schlacht unter dem Brunsberg 775 an der Weser südlich von Höxter. Im Zuge der Sachsenkriege waren Söhne sächsischer Vornehmer nach Corbie gelangt, wo sie fränkische Lebensweise, Bildung, Kultur und Religion erlernen und dann innerhalb der sächsischen Führungsschicht verbreiten sollten.
Aufgrund der anhaltenden Sachsenkriege sowie der nach Karls Tod 814 eingetretenen internen Kämpfe am Herrscherhof, insbesondere der Verbannung der beiden mit der Realisierung des Klosters betrauten Vettern Adalhard und Wala, wurde die Gründung in zwei Abschnitten aber erst unter seinem 814-840 regierenden Sohn Ludwig dem Frommen vollzogen.
Michael Koch
Literatur:
799 - Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, hrsg. von Christoph Stiegemann & Matthias Wemhoff. Katalog der Ausstellung Paderborn 1999, 3 Bände. Mainz 1999.
Michael Koch, Andreas König, Die Brunsburg bei Höxter-Godelheim, Kreis Höxter. (Frühe Burgen in Westfalen, Heft 29) Münster 2009.
Andreas König, Holger Rabe, Gerhard Streich (Hrsg.), Höxter - Geschichte einer westfälischen Stadt. Bd. 1: Höxter und Corvey im Früh- und Hochmittelalter. Hannover 2003.
Johannes Laudage, Lars Hageneier, Yvonne Leiverkus, Die Zeit der Karolinger. Darmstadt 2006.
[1] Der Hausmeier (maior domus) verwaltete den Königshof, unter schwachen Herrschern leitete er aber faktisch seit dem 7. Jahrhundert die Regierungsgeschäfte.
Thema 2: Hethis und Nova Corbeia
Hethis und Nova Corbeia2-Stephanus© Stadt HöxterVon den Geschehnissen rund um die Gründung des ersten Mönchsklosters in Sachsen erzählen eine Gründungsurkunde sowie mehrere literarische Berichte des 9. Jahrhunderts. Hervorheben lassen sich die Lebensbeschreibungen Adalhards des Älteren (780-826), Abt des nordfranzösischen Klosters Corbie, und seines Halbbruders Graf/Abt Wala (um 755-836), die jeweils kurz nach ihrem Tod durch den Mönch Radbertus Paschasius verfasst wurden. Dem schließt sich ein Bericht von der Überführung der Gebeine des heiligen Märtyrers Vitus nach Corvey und der eventuell ebenfalls auf das 9. Jahrhundert zurückgehende „Herforder Gründungsbericht" an. Auf dieser Schriftgrundlage können die Ereignisse bis in die Einzelheiten nachvollzogen werden.
Angeregt durch die Pläne Karls des Großen begann Abt Adalhard von Corbie unter den vornehmen Sachsen in seinem Kloster nachzuforschen, ob in ihrer Heimat ein geeigneter Platz für ein Mönchskloster vorhanden wäre. Notwendig waren nach Aussage der Benediktsregel vor allem eine ausreichende Wasserversorgung sowie die Gelegenheit zur Anlage von Mühlen, Gärten und Werkstätten. Bei dem jungen Sachsen Thiodrad hatte er Erfolg. Thiodrad wurde zu seinen Verwandten nach Sachsen geschickt, um den Vorschlag zu prüfen und ihr Einverständnis einzuholen. Das gelang ihm auch. Aufgrund einer wichtigen Mission Adalhards des Älteren in Italien sowie seiner 814 bewirkten Verbannung vom Hof verzögerte sich jedoch der erste Gründungsversuch. Erst sechs Jahre später (815/16) wurde er unter Führung seines Vertrauten Adalhard dem Jüngeren an einem Ort namens Hethis (Hetha) wieder aufgenommen. Die Ortslage wird im Solling vermutet. Der Ortsname beruht auf dem altsächsischen Wort für Heide, einem durch menschlichen Einfluss aufgelichteten Wald.
Obwohl die Gründung einer Mönchszelle aussichtsreich war, es einen stetigen Zustrom aus dem sächsischen Adel und sogar schon eine Klosterschule gab, waren die Mönche unzufrieden. In dieser Notlage wurden im Jahr 821 Adalhard der Ältere und sein Halbbruder Wala vom Kaiser rehabilitiert. Nun konnte Adalhard Ludwig den Frommen bitten, einen anderen Platz für das Kloster suchen zu dürfen, und reiste zusammen mit Wala nach Hethis. Hier erfuhren sie von einer Alternative im Wesertal, die sie prüften und für gut befanden. Anschließend holten sie die Zustimmung der zuständigen Bischöfe, Grafen und Adligen ein. Bei dem neuen Ort handelte es sich nach Angabe des Gründungsbriefs von 823 um den Königshof an einem Ort, der lange Zeit schon Höxter hieß. Der Herforder Gründungsbericht und Walas Lebensbeschreibung sprechen von dem Eigengut (Herrenhaus, Steinhaus) eines gewissen Grafen Bernhard, dem Edelsten unter den Sachsen, das er auf Bitten seines Freundes Wala an Kaiser Ludwig übertrug.
Nachdem die Mönche den neuen Platz im Wesertal geheiligt hatten, begannen am 6. August 822 die Bauarbeiten. Man darf wohl davon ausgehen, dass zuvor Wald in der Flussaue gerodet worden war. Der Bauplatz wurde abgesteckt und die Kirche und die Wohngebäude eingemessen. Eine Gruppe von Mönchen blieb an der Weser zurück, um provisorische Unterkünfte zu errichten. Am 25. August kam Bischof Badurad von Paderborn, heiligte den Ort und richtete das Kreuzzeichen an der Stelle des Altars auf. Auf Wunsch der Brüder benannte er den Ort als Denkmal nach dem Mutterkloster Neu-Corbie. Am 25. September brachen die in Hethis verbliebenen Mönche mit ihrem Hausrat auf und kamen am 26. September zum neuen Klosterplatz im Weserbogen, wo sie zunächst eine Dankmesse feierten.
Noch im selben Jahr erschien Abt Adalhard mit Mönchen aus Corbie und legte bei einer feierlichen Versammlung die Regeln für die neue Gemeinschaft fest. Anschließend schickte er Wala an den Kaiserhof, um für Corvey die gleichen Freiheiten und den gleichen Königsschutz wie für die übrigen königsnahen Klöster im Kernraum des Frankenreiches zu erbitten. Außerdem leitete Adalhard die Wahl seines Nachfolgers in die Wege. Am 27. Juli 823 erfolgte in der Pfalz Ingelheim bei Wiesbaden die urkundliche Bestätigung und Privilegierung des neuen Klosters durch den Stifterherren Kaiser Ludwig den Frommen (778-840). Das Kloster wurde außerdem mit Reliquien des heiligen Stephanus, dem ersten Titelpatron Corveys aus der Hofkapelle des kaiserlichen Palastes und der Siedlung Höxter ausgestattet. Als vorrangige Ziele wurden die Festigung des christlichen Glaubens unter den Sachsen, die Stabilität des Reiches und das ewige Gedenken für die Herrscherfamilie bestimmt. Damit war die Gründung Corveys abgeschlossen.
Michael Koch, Stadtarchivar
Literatur:
Andreas König, Holger Rabe, Gerhard Streich (Hrsg.), Höxter - Geschichte einer westfälischen Stadt. Bd. 1: Höxter und Corvey im Früh- und Hochmittelalter. Hannover 2003.
Karl Heinrich Krüger, Studien zur Corveyer Gründungsüberlieferung. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Bd. 10 = Abhandlungen zur Corveyer Geschichtsschreibung, Bd. 9) Münster 2001.
Thema 3: Christianisierung und Mission
Christianisierung und Mission3- Taufszene© Stadt HöxterMit der Entscheidung Karls des Großen, die Sachsen vollständig in das Frankenreich zu integrieren, fiel auch der Beschluss über die Vernichtung ihres Heidentums. Bereits auf ihrem ersten Heereszug gegen die Sachsen entführten die Franken das sächsische Heiligtum der Irminsul. In der Praxis wurde die Christianisierung in Form von „Schwertmission" und Zwangstaufe durchgeführt. Bei dem sich anschließenden Bekehrungswerk sowie der Verbreitung des Christentums in Nord- und Osteuropa kam Kloster Corvey eine außerordentliche Bedeutung zu.
Bevor wir die frühmittelalterlichen Vorgänge erneut aufgreifen, ist zunächst ein Rückblick notwendig. Als wichtige Zäsur betrachtet die abendländische Geschichtsschreibung die 313 von Kaiser Konstantin dem Großen gestattete freie Ausübung des christlichen Glaubens im Römischen Reich. Beweggrund für seine Entscheidung soll der unter göttlichem Vorzeichen herbeigeführte militärische Sieg über seine Feinde in der „Schlacht an der Milvischen Brücke" gewesen sein. Seither wurden von Theologen Römerreich und Gottesreich, Monarchie und Monotheismus miteinander identifiziert. Spätere Herrscher übernahmen das Bild vom Christengott, der die heidnischen Götter besiegt. Es herrschte Übereinstimmung, dass allein die Bekehrung den Übergang zu einem menschenwürdigen Leben ermögliche und nur der Getaufte auch tatsächlich als Mensch gelte.
3-Kreuzfibeln© Stadt HöxterAuch Karl der Große zählte die Sorge um die christliche Kirche zu seinen wichtigsten Herrscheraufgaben. Ohne den Segen Gottes würde das Reich nicht gedeihen. Dieser Segen konnte nur bei rechter Lebensführung und korrekt abgehaltener Liturgie erlangt werden und die Norm für die Richtigkeit bot allein der römische Papst. Die fränkische Heeresversammlung in Lippspringe bei Paderborn von 782 stellte für Sachsen Gebote und Verbote auf, die die Ausrottung des Heidentums und den Aufbau eines Netzes von Pfarrkirchen (Urpfarreien) zum Gegenstand hatten. Darin wurde etwa festgelegt: Wer, vom Teufel getäuscht, nach Heidenart glaubt, ein Mann oder eine Frau sei Hexe [...], soll enthauptet werden. Außerdem wurden Beschlüsse gefasst zur Einführung des Zehntgebots[1], der Kindertaufe, von Begräbnissen auf Kirchhöfen und des Kirchenasylrechts.
Im Mittelpunkt der Organisation der Christengemeinden standen seit der Antike der Bischof und sein Bistum. Der Aufbau einer eigenständigen sächsischen Bistumsorganisation begann um 780 in Paderborn und erstreckte sich bis in die ersten Jahrzehnte des 9. Jahrhunderts. Für das entstehende Bistum Paderborn wurde das mainfränkische Bistum Würzburg beauftragt, die personelle und materielle Versorgung und Patenschaft zu übernehmen. Im Oberweserraum nordöstlich von Höxter stießen vier Missionsgebiete aufeinander, sichtbar anhand der Grenzen der Bistümer Hildesheim, Mainz, Minden und Paderborn. Aus Würzburg gelangte der heilige Kilian als Kirchenpatron nach Paderborn und wahrscheinlich schon zu diesem frühen Zeitpunkt auch nach Höxter. Hier wurde um 800 eine Missionskirche in Gestalt einer einfachen, rechteckigen Saalkirche aus Stein gegründet.
Im Hinblick auf die besondere Bedeutung des Klosters Corvey bei der Verbreitung des Christentums ist an vorrangiger Stelle die Klosterschule zu nennen. Ihr erster Lehrer, der aus Corbie stammende Mönch Ansgar, begab sich auf Missionsreise nach Skandinavien, wo er noch heute als „Apostel des Nordens" verehrt wird. Aus Corvey gingen zahlreiche Bischöfe hervor, darunter in Nachfolge Ansgars mehrere Erzbischöfe von Hamburg-Bremen. Um dem Volk die Macht der christlichen Kirche vor Augen zu führen, ließ man imposante Gotteshäuser errichten und heilsmächtige Reliquien von Heiligen übertragen. Nach Corvey kamen sie etwa in Gestalt des hl. Stephanus (823) sowie des hl. Vitus (836). Von hier begann der Kult des sächsischen Stammes- und Reichsheiligen Vitus auszustrahlen. Bereits vor der Mitte des 10. Jahrhunderts könnten Vitusreliquien nach Prag gelangt sein, wo zumindest ein Corveyer Mönch auch den Bischofsstuhl bestieg.
Michael Koch, Stadtarchivar
Literatur:
799 - Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, hrsg. von Christoph Stiegemann & Matthias Wemhoff. Katalog der Ausstellung Paderborn 1999, 3 Bände. Mainz 1999.
Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Zweite überarbeitete Auflage Darmstadt 2000.
Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie, hrsg. von Alfried Wieczorek & Hans-Martin Hinz. Handbuch zur Ausstellung, 2 Bde. Stuttgart 2000.
Andreas König, Holger Rabe, Gerhard Streich (Hrsg.), Höxter - Geschichte einer westfälischen Stadt. Bd. 1: Höxter und Corvey im Früh- und Hochmittelalter. Hannover 2003.
[1] Der Zehnt war bereits im Altertum bekannt. Er bezeichnete im frühen Mittelalter die Abgabe des zehnten Teiles der Bodenerträge an eine kirchliche, später auch an eine weltliche Institution.
Thema 4: Die Benediktiner
Die Benediktiner© Stadt HöxterDie Benediktiner sind eine Ordensgemeinschaft, die auf Benedikt von Nursia (geb. um 480, gest. 547 n. Chr.) zurückgeht. Sie sind der älteste abendländische Orden überhaupt. Auch das Kloster Corvey gehörte diesem altehrwürdigen Mönchsorden an.
Im Jahre 529 n. Chr. gründete Benedikt das Kloster von Monte Cassino. Zugleich arbeitete er eine Mönchsregel aus, die fortan Hauptgrundlage dieses Ordens wurde. Die wichtigste Forderung für die benediktinischen Mönche bestand darin, Gott zu suchen. Dieses sollte durch ‚ora et labora' - beten und arbeiten - geschehen.
Benedikt ordnete einen festen Tagesablauf an, der sich nach den einzelnen Gebetstunden gliederte. Dabei wurde zwischen Winter und Sommer unterschieden. Der Tag begann bei Anbruch der Dämmerung mit dem Singen der Laudes. Im Rhythmus von drei Stunden wurden die Prim, die Terz, die Sext, die Non, die Vesper, die Komplet und die Vigil als weitere Gebetsstunden festgelegt.
Neben den Gottesdiensten wurden weitere Zeiten für Lesen (in der Regel biblische Texte) sowie Stunden der Arbeit verankert. Dazu kamen die Mahl- sowie die Schlafzeiten. Der Tagesablauf wurde größtenteils in Gemeinschaft und schweigend verbracht. Die benediktinischen Regeln verpflichteten die Mönche bei ihrem Eintritt in den Orden zu Gehorsam, Schweigsamkeit, Beständigkeit und Demut.
Vor allem durch irische Mönche kam es im 6. Jahrhundert nach Christus zu über 300 Klostergründungen in Westeuropa. Auf dem Konzil von Autun (663-675) wurde festgelegt, dass in den neuen Klöstern die Regeln Benedikts zu befolgen seien. Daneben gab es jedoch weitere Regelwerke, insbesondere des irischen Mönches Columban. 817 wurde dann beim Konzil von Aachen durch Reformabt Benedikt von Aniane und mit Unterstützung Kaiser Ludwigs des Frommen verfügt, dass alle fränkischen Klöster ausschließlich auf die Regel Benedikts von Nursia verpflichtet seien. Die Originalschrift wurde im Mutterkloster Monte Cassino aufbewahrt. Abschriften gelangten nach Aachen und in das Musterkloster St. Gallen. Karl der Große veranlasste, dass in allen Klöstern seines Herrschaftsgebietes Klosterschulen und Skriptorien errichtet wurden. Klöster wurden somit zu modernen Bildungszentren des Mittelalters. Und sie wurden darüber hinaus zum wichtigsten Kulturträger.
Mit dem Eintritt in ein Kloster wurde es üblich, dass dem Kloster eine Schenkung vermacht wurde. In vielen Klöstern führte dies dazu, dass ausschließlich Sprösslinge von adligen Familien Aufnahme fanden, so auch in Corvey. Weitere Schenkungen wurden von Gläubigen für die Erinnerung an ihre Angehörigen und für ihr Seelenheil getätigt. Deshalb wurde es notwendig, eine aufwändige Klosterverwaltung einzuführen. Neben dem Abt als Leiter eines benediktinischen Klosters gehörten hierzu der Propst als Stellvertreter in weltlichen bzw. der Prior in geistlichen Klosterangelegenheiten, der Kämmerer, der für die Finanzen verantwortlich war, der Bibliothekar, der Pförtner, der Cellerar, der für die Vorratshaltung, und die Arbeitsorganisation sorgte, der Hospitalar, der das Krankenhaus leitete, und weitere Klosterämter je nach Bedarf.
Bedeutende Klöster wie Corvey waren in die Reichsverwaltung einbezogen. Dieses führte zu einem enormen Gewinn an politischem Einfluss und Prestige. Das Armutsideal, das insbesondere den eremitischen Klostergründungen der Antike zugrunde lag, trat in den Hintergrund, ebenso oft der religiöse Auftrag. Durch verschiedene Klosterreformen (u. a. ausgehend von Gorze und Hirsau) versuchten die Benediktiner gegen diesen Trend anzusteuern. Als weitere Reaktion gründeten sich neue Ordensgemeinschaften wie die Zisterzienser, die Franziskaner, oder die Dominikaner.
Hubertus Grimm
Literatur:
Hans Heinrich Kaminsky, Studien zur Reichsbatei Corvey in der Salierzeit. Köln 1972.
Klosterleben im Mittelalter, hrsg. von Georg A. Narciß. Frankfurt/Main 1989.
Orden und Klöster - Das christliche Mönchtum in der Geschichte, hrsg. von Georg Schwaiger und Manfred Heim. München 2002.
Klemens Honselmann, Das Klosterwesen im Raume der oberen Weser. In: Kunst und Kultur im Weserraum 800-1600. Ausstellung des Landes Nordrhein-Westfalen Corvey 1966. Bd. 1, Münster 1966, S. 223-234.
Thema 5: St.Kilian - die karolingerzeitliche Missionskirche
St.Kilian - die karolingerzeitliche Missionskirche5-Saalkirche Kiliani© Stadt HöxterDie romanische Kilianikirche gehört mit ihrem zweitürmigen Westbau zweifellos zu den stadtbildprägenden Bauwerken in Höxter. Neben der gotischen Marienkirche bildet sie das einzige erhaltene Beispiel mittelalterlicher Sakralbaukunst in der Altstadt.
Zu einer überraschenden Entdeckung kam es 1961, als im Rahmen umfangreicher Sanierungsmaßnahmen die Grundmauern eines älteren Bauwerkes unter der Kirche zutage traten. Die daraufhin erfolgte Untersuchung durch den Bielefelder Grabungstechniker Doms führte zur Freilegung eines geosteten, rechteckigen Kirchengrundrisses. Der einschiffige Bau wies eine Breite von 8,9 m sowie eine Länge von 17,8 m (Innenmaße) auf und besaß 0,8 m starke Grundmauern aus Bruchsteinen. Im Westen der Kirche war durch eine Mauer eine kleine Vorhalle abgetrennt. Im Osten schloss ein rechteckiger, etwa 4,5 x 4,5 m großer Chorraum an, der anscheinend einer jüngeren Bauphase zuzuweisen ist. Das Gotteshaus gehört zu den frühen Missionskirchen, mit denen das Land nach den siegreichen Sachsenkriegen Karls des Großen (772-804) überzogen wurde, um die heidnische Bevölkerung zu christianisieren. Keine dieser frühmittelalterlichen Saalkirchen hat bis in die heutige Zeit überdauert und insofern sind sie nur noch archäologisch nachzuweisen. Neben wenigen Beispielen für Holzkirchen überwiegen die Nachweise von Steinbauten.
5-Baumsargbestattung© Stadt HöxterIn den Schriftquellen werden die frühen Kirchen nur in Ausnahmefällen erwähnt und bedauerlicherweise gehört das Gotteshaus in Höxter nicht dazu. Daher ist auch nicht überliefert, wer die Saalkirche gründete und ob sie bereits - wie die spätere Basilika - dem heiligen Kilian geweiht war. Als Gründer sind zu dieser Zeit sowohl der König als auch Adelige oder Bischöfe in Betracht zu ziehen. Das Kilianspatrozinium erscheint vornehmlich in Zusammenhang mit bischöflichen Kirchenstiftungen. Im Falle der höxterschen Kirche verwiese dieser Umstand auf den um 805 errichteten Bischofssitz in Paderborn. Ebenso ist aber auch die Verehrung Karls des Großen für den Heiligen überliefert. Einer von Wigand (1786-1866), Friedensrichter in Höxter und Begründer der landesgeschichtlichen Forschung in Westfalen, 1824 wiedergegebenen Sage zufolge, hatte Karl der Große unweit der Brunsburg eine Kapelle errichten lassen. Der umstrittene Chronist Paullini (1643-1712) will sogar wissen, dass sie dem heiligen Kilian geweiht war und den Ursprung der höxterschen Kilianikirche bildete.
Bei den Ausgrabungen 1961 wurden mehrere Gräber innerhalb und außerhalb der frühmittelalterlichen Kirche beobachtet. 1991 bot sich der Stadtarchäologie die Möglichkeit weiterer Untersuchungen: Auf der Südseite der Kilianikirche wurden Überreste von 50 Individuen freigelegt. Die Verstorbenen waren in Baumsärgen beigesetzt, wie es im christianisierten Sachsen im 9. und 10. Jahrhundert gebräuchlich war. Dem neuen Glauben folgend, waren sie nicht mit Grabbeigaben für die Reise in das Totenreich ausgestattet. Die Belegung des Friedhofes bricht anscheinend noch im 9. Jahrhundert ab. Vermutlich wurde er an das zwischen Höxter und Corvey gegründete Stift Niggenkerken (Neue Kirche, geweiht 863) verlegt. Die geborgenen Skelette wurden am Zentrum Anatomie der Universität Göttingen untersucht. Unter anderem zeigte sich, dass die Bestatteten zu Lebzeiten kaum an Mangelerkrankungen litten. Verbreitet waren hingegen degenerative Erkrankungen der Hüft- und Schultergelenke, die charakteristisch sind für vorindustrielle, bäuerliche Bevölkerungen, die ein hohes Maß an körperlicher Arbeit leisten. Die Göttinger Anthropologen bescheinigten den frühmittelalterlichen Einwohnern Höxters einen im zeitgenössischen Vergleich guten Gesundheitszustand.
Andreas König, Stadtarchäologe
Literatur:
Andreas König, Holger Rabe, Gerhard Streich (Hrsg.), Höxter - Geschichte einer westfälischen Stadt. Band 1: Höxter und Corvey im Früh- und Hochmittelalter. Hannover 2003.
Fritz Sagebiel, Die mittelalterlichen Kirchen der Stadt Höxter. Eine baugeschichtliche Betrachtung. Höxtersches Jahrbuch 5, 1963.
Thema 6: Adalhard - erster Abt von Corvey
Adalhard - erster Abt von Corvey6-Adalhard von Corbie© Stadt HöxterErster Abt des neu gegründeten Klosters Corvey wurde Adalhard.
Er stammte aus der königlichen Familie der Karolinger und war ein Enkel Karl Martells. Er wurde 751 oder 752 als Sohn Bernhards, des Bruders von König Pippin, und einer Fränkin geboren. Aus seinen ersten 20 Lebensjahren ist nur bekannt, dass er am königlichen Hofe zusammen mit seinem Vetter Karl dem Großen sowie Benedikt von Aniane erzogen wurde. Zwischen 768 und 771 könnte er dann im Dienste von Karl dem Großen oder dessen Bruder Karlmann, die in dieser Zeit zusammen das Frankenreich regierten, gestanden haben.
772 hat er in jedem Fall die weltliche Bühne verlassen und ist als Mönch in das Kloster Corbie eingetreten. Über seine Beweggründe kann nur spekuliert werden. Möglicherweise hängen sie mit der nun beginnenden Alleinherrschaft Karls des Großen zusammen.
In Corbie blieb Adalhard aber nur kurzzeitig. Noch vor Beendigung seines einjährigen Noviziats wechselte er ins Kloster Monte Cassino. Erst 774 kehrte er nach Corbie zurück und wurde dort zum Abt bestellt. In den folgenden Jahren wurde er einer der engsten Berater Karls des Großen, der ihn nun mit verantwortungsvollen Aufgaben betraute. Als Karl 781 seinen Sohn Pippin zum Regenten des eroberten Langobardenreiches in Italien einsetzte, bestimmte er Adalhard zu dessen Berater und Erzieher. Adalhard wurde dadurch zusammen mit anderen Beratern praktisch zum Mitregenten Italiens. Spätestens um 790 muss Adalhard aber wieder in das Frankenreich zurückgekehrt sein. Hier gehörte er nun zur Hofgesellschaft Karls und hatte regelmäßig Umgang mit allen Großen des Reiches. Mit vielen von ihnen stand er auch in ausführlicher schriftlicher Korrespondenz. Gleichzeitig sorgte er dafür, dass Corbie zu einem Musterkloster mönchischer Lebensweise wurde. Adalhard selbst pflegte die benediktinischen Ideale, insbesondere die Armut.
Als enger Vertrauter Karl des Großen war er um die Jahrhundertwende wohl auch an den Gesprächen mit Papst Leo III. beteiligt, an deren Ende Karl vom Papst zum Kaiser gekrönt wurde. Ob Adalhard beim Zug nach Rom dabei war, muss offen bleiben. 802 ist aber seine Teilnahme an der Synode von Aachen bezeugt, wo es um die benediktinischen Mönchsregeln ging. Adalhard scheint hier mit Benedikt von Aniane aneinander geraten zu sein. Auch in der Sachsenpolitik Karls scheint er eine aktive Rolle gespielt zu haben. Bis zum Tod Karls des Großen ist Adalhard ständiger Gast auf Reichsversammlungen und Synoden oder Gesandter des Kaisers beim Papst (810). Von 810 bis 814 leitete er erneut die Regierungsgeschäfte in Italien, als Karls Sohn Pippin verstorben und dessen Sohn Bernhard noch minderjährig war.
Nach Karls Tod 814 kehrte Adalhard unverzüglich ins Frankenreich zurück, wo ihm in Corbie mitgeteilt wurde, dass er in das Kloster St.-Philibert auf der Loire-Insel Noirmoutier verbannt sei. Auch seine Geschwister ereilte das gleiche Schicksal. Dahinter steckte das Bemühen des neuen Kaisers Ludwig d. Frommen, alle Berater seines Vaters aus der Reichspolitik zu entfernen.
821 wurde Adalhard wieder als Abt von Corbie eingesetzt und kehrte ein Jahr später auch kurzzeitig als Berater an den Hof Ludwigs zurück. Im gleichen Jahr reiste er zusammen mit seinem Halbbruder Wala nach Sachsen, um der dort 815/816 erfolgten Klostergründung Hethis eine bessere Zukunft zu verschaffen. Sie fanden für die junge Klostergemeinschaft ein geeignetes Gelände im Weserbogen bei der villa hucxori und gründeten dort das sächsische Kloster neu. Adalhard übernahm in Personalunion als Abt von Corbie auch die Leitung von Corvey. Am 2. Januar 826 verstarb er in Corbie. Wahrscheinlich im Jahre 1025 wurde er heilig gesprochen. An seinem Todestag sowie am 10. Oktober, dem Tag seiner Heiligsprechung, feierten die Mönche in Corbie und Corvey Messen zu seinem Andenken.
Hubertus Grimm
Literatur:
Brigitte Kasten: Adalhard von Corbie, Düsseldorf 1985.
Karl Heinrich Krüger, Studien zur Corveyer Gründungsüberlieferung, Münster 2001.
Foto: Abt Adalhard der Ältere (822-826); die Bilder in der Äbtegalerie stammen von dem Braunschweiger Maler Tobias Querfurth (um 1714).
Thema 7: Der heilige Vitus - Reliquien-Verehrung in Corvey
Der heilige Vitus - Reliquien-Verehrung in Corvey
Im Jahr 2011 feierte die Corveyer Kirchengemeinde mit vielen Gläubigen eine ganz besondere Feier:
Vor 1175 Jahren waren die Gebeine des heiligen Vitus vom Kloster St. Denis bei Paris nach Corvey überführt worden. Vitus stieg in der Folgezeit schnell zum Schutzheiligen Corveys auf.
7-Vitus© Stadt HöxterDie sogenannte Translatio Sancti Viti Martyris (Übertragung des heiligen Märtyrers Vitus) ist eine der ältesten Corveyer Geschichtsquellen und hat elementare Bedeutung für die Erkenntnisse über die Corveyer Gründungsgeschichte. Denn neben der Erzählung von der Übertragung der Vitusreliquien und den dabei bewirkten Wundern wird hier auch auf die Gründung des Klosters Corvey als entscheidender Schritt zur Bekehrung der Sachsen eingegangen, wodurch dem Text zusätzliche Bedeutung zukommt.
Der Legende nach wurde Vitus Ende des 3. Jahrhunderts auf Sizilien in der Stadt Mazzara als Sohn eines heidnischen Senators geboren. Sein Erzieher Modestus und seine Amme Crescentia erzogen Vitus im christlichen Glauben und entführten ihn im Alter von 7 Jahren aus dem Elternhaus. Dieses geschah, weil er bereits in diesem Alter Wunder bewirkte und deshalb von seinem Vater geschlagen und schließlich sogar vor einen Richter gebracht worden war. Vitus floh mit seinen Begleitern auf einem Schiff nach Lukanien. Dort wurde er jedoch entdeckt und zu Kaiser Diokletian gerufen. Vitus heilte dessen besessenen Sohn, weigerte sich jedoch, seinem christlichen Glauben abzuschwören. Zusammen mit Modestus und Crescentia wurde er ins Gefängnis geworfen. In den Folterkammern Diokletians überstanden sie zunächst alle Torturen und wurden von Engeln - so die Legende weiter - schwer verwundet in die Stadt Lucca gebracht. Dort erlagen sie kurze Zeit später aber ihren Verletzungen.
Schon bald wurde Vitus als jugendlicher Märtyrer in Lucca und auch in Rom als Heiliger verehrt. Der Überlieferung zufolge wurden seine Gebeine 583 von Sizilien aufs Festland übertragen. 756 erwarb Abt Fulrad die Reliquien für sein Kloster St. Denis bei Paris. 830 fiel Abt Hilduin von St. Denis im Zuge einer Verschwörung gegen Kaiser Ludwig den Frommen in Ungnade und wurde ins Kloster Corvey ins Exil geschickt. Durch Vermittlung von Abt Warin von Corvey wurde die Verbannung aufgehoben und Abt Hilduin versprach Abt Warin dafür die Übersendung von Reliquien, was schließlich zwischen dem 19. März und 13 Juni 836 geschah.
Die Reliquien sollten das Christentum in Sachsen stärken. Zwischen Bischöfen und Äbten entbrannte in dieser Zeit ein regelrechter Wettlauf um attraktive Reliquien. Denn bedeutende Reliquien führten zu einem Imagegewinn und zogen Gläubige von weit her an, was auch wirtschaftlich nicht zu verachten war. Mit dem Namen Vitus wurden vor allen Dingen Wunderheilungen in Verbindung gebracht. Sie waren ein wesentlicher Bestandteil seiner Legende. So erhielt Vitus den Ruf als Helfer in unterschiedlichsten Notlagen. Er galt als Wunderheiler und Exorzist, der Dämonen austreiben konnte. Die Dämonen standen dabei als Zeichen des Heidentums,. Als einem der 14 Nothelfer traute man ihm auch die Heilung zahlreicher Krankheiten an Mensch und Tier und einen Einfluss auf das Wettergeschehen zu.
Der Vituskult entwickelte sich in Corvey prächtig und bald nach der Überführung wurde er gleichrangiger Schutzpatron neben dem Gründungspatron Stephanus. Die Vitusverehrung erreichte sogar reichspolitische Dimensionen: Man kolportierte, dass mit der Überführung des Heiligen Vitus von St. Denis nach Corvey das Glück die Franken verlassen und auf die Sachsen übergegangen sei. Der schließlich erfolgte Wechsel vom karolingischen zum sächsischen Königshaus wurde als Werk des Heiligen Vitus gedeutet. Zahlreiche Pfarrkirchen und Propsteien, die von Corvey aus oder auf andere Anregung hin gegründet wurden, erhielten das Patronat des Heiligen Vitus. Kaiser und Könige kamen sogar zum Fest des Heiligen Vitus am 15. Juni mit großem Gefolge nach Corvey, um das Patronatsfest dort zu feiern.
Gegen Ende des 11. Jahrhunderts kam es zu einer Wiederbelebung des Vituskultes durch die Gründung mehrerer St. Vitus-Bruderschaften, die vor allem dem gemeinschaftlichen Gebet und Totengedenken dienten. Im späten Mittelalter gerieten die Vitus-Reliquien zum Spielball der regionalen Mächte und wurden mehrmals dem Kloster Corvey entnommen. Grundlegende Einblicke in das Vitusfest geben eine Ordnung der Heiltumsschau von 1511/14 und der Bericht des Chronisten Johannes Letzner um 1600. Der mittelalterliche Vitusschrein, in dem die Reliquien aufbewahrt wurden, ging 1634 im Zuge der Überfälle auf Corvey im 30-jährigen Krieg verloren.
Abt Arnold von Waldois erließ im 17. Jahrhundert eine Festordnung, die bis heute noch Gültigkeit hat und eingehalten wird. Demselben Abt ist zu verdanken, dass ersatzweise eine Vitus-Reliquie aus Mönchengladbach erworben werden konnte. Für ihre Aufbewahrung wurde der barockzeitliche Vitusschrein gestiftet.
Hubertus Grimm
Literatur:
Hans Joachim Brüning, 1150 Jahre Vitus-Verehrung in Corvey. In: Höxter-Corvey, 1986, Heft 6, S. 5-11.
Heinrich Königs, Der hl. Vitus und seine Verehrung. (Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, 3. Folge, Heft 28/29) Münster 1939.
Hedwig Röckelein, Der heilige Vitus. Die Erfolgsgeschichte eines Importheiligen. In: Gabriela Signori (Hrsg.), "Heiliges Westfalen". Heilige, Reliquien, Wallfahrt und Wunder im Mittelalter. (Religion in der Geschichte. Kirche, Kultur und Gesellschaft, Bd. 11) Bielefeld 2003, S. 19-29.
Heinrich Rüthing, Höxter um 1500. Analyse einer Stadtgesellschaft. (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte, Bd. 22), Paderborn 1986.
Irene Schmale-Ott, Translatio Sancti Viti Martyris. Übertragung des heiligen Märtyrers Vitus. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Bd. 41 = Fontes minores, Bd. 1) Münster 1979.
Thema 8: Gründungskirche und Westwerk
Gründungskirche und Westwerk8-Modell Hannemann Klosterkirche© Stadt HöxterNachdem die ursprüngliche Klostergründung, die im Solling vermutet wird, aufgegeben wurde, erfolgte in der Weserniederung die Neugründung des Klosters unter besseren Vorzeichen. Dort bildete der Kirchenbau mit seinem Westwerk das wichtigste und größte der karolingischen Bauwerke. Im Gegensatz zur Gründungskirche hat sich das Westwerk mit seiner einzigartig umfangreichen karolingerzeitlichen Substanz seit gut elf Jahrhunderten erhalten.
Es ist das älteste Baudenkmal Westfalens und hat wegen seines überragenden architektur-, kunst- und kirchengeschichtlichen Zeugniswertes entscheidenden Anteil bei der Beantragung Corveys zur Welterbestätte.
Die Bauaktivitäten begannen 822 mit der Errichtung des Kirchengebäudes. Die Arbeiten dauerten über 20 Jahre bis zur Weihe der Kirche. Die Grundsteinlegung für das Westwerk mit seinem mächtigen Zentralbau und den beiden Treppentürmen erfolgte rund 30 Jahre später (873). Dieses Bauwerk wurde 885 geweiht.
Die hohe kunst-, kirchen- und architekturhistorische Bedeutung dieser frühmittelalterlichen Bauwerke bezeugt heute nur noch das Westwerk. Der karolingische Kirchenbau musste mit seinem Abbruch ab 1667 einer barocken Erneuerung weichen.
Die Gestalt und die Größe der Gründungskirche sind durch ein Aufmaß von 1663 überliefert, dessen Darstellung durch archäologische Grabungen bestätigt wird. Es handelte sich um eine dreischiffige Basilika mit breitem Mittel- und schmalen Seitenschiffen. Das Langhaus erstreckte sich in west-östlicher Richtung über etwa 30 m. Der Chor weist zwei Bauphasen auf. Zunächst war er quadratisch mit kleiner Außenkrypta, bevor er vergrößert und durch Kapellen erweitert wurde. Dieser Bauzustand hat sich über rund 800 Jahre bis zur Barockzeit nahezu unverändert erhalten.
Durch archäologische Befunde und Funde konnte man viele Erkenntnisse zur Innengestalt gewinnen;
u. a. anhand farbiger Wandfliesen aus Glas und vieler Putzfragmente
von bemalten Decken.
8-Johanneschor© Stadt HöxterDas karolingische Westwerk ist ein mehrgeschossiger Zentralbau mit turmartig überhöhtem quadratischen Kern sowie zwei westlich angefügten Türmen mit den Treppenaufgängen. Die Türme wirken erst im oberen Teil als eigenständige Bauteile. An der Westfassade befindet sich ein Vorbau mit Satteldachabschluss. Durch eine Vorhalle mit drei Bogenöffnungen und das große Portal gelangt man in den zentralen Innenraum. Dieser beeindruckt mit seinen unterschiedlich ausgeführten Säulen und Pfeilern sowie den Kreuzgratgewölben. Der oberhalb hiervon gelegene, repräsentative und privilegierten Nutzungen vorbehaltene Hauptraum des Mittelturmes (Johanneschor) erstreckt sich über zwei Geschosse. Er ist umgeben von überwölbten Nebenräumen und darüber befindlichen Emporen.
Von kunsthistorisch herausragender Bedeutung sind die im Johanneschor nachgewiesenen lebensgroßen Stuckfiguren mit ihren erhaltenen Vorzeichnungen, die farbigen Raumfassungen, ornamental und gegenständlich ausgeführt, wie etwa die Darstellung des Kampfes des Odysseus mit dem Ungeheuer Skylla. Ebenfalls auf das 9. Jahrhundert geht die Inschriftentafel mit ihren vormals vergoldeten Metallbuchstaben an der Westwerkfassade zurück (die mittelalterliche Inschrift wird übersetzt: „Umhege, o Herr, diese Stadt, und lass deine Engel die Wächter ihrer Mauern sein.").
Das Westwerk hat im 12. Jahrhundert in den oberen Turmbereichen sowie um 1600 im Inneren einige Veränderungen erfahren. Ein Atriumvorbau im westlichen Hauptzugangsbereich ist nicht mehr erhalten, seine Größe ist jedoch durch archäologische Grabungen nachgewiesen.
Henning Fischer,
UDB Stadt Höxter,
15.2.2012
Literatur:
799 - Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, hrsg. von Christoph Stiegemann & Matthias Wemhoff. Katalog der Ausstellung Paderborn 1999, 3 Bände. Mainz 1999.
Hilde Claussen, Anna Skriver, Die Klosterkirche Corvey. Bd. 2: Wandmalerei und Stuck aus karolingischer Zeit. (Denkmalpflege und Forschung in Westfalen, Bd. 43, 2) Mainz 2007.
Thema 9: Hellweg und Grubekanal
Hellweg und GrubekanalFreigelegter Hellweg© Stadt HöxterVorteilhafte geographische Umstände bildeten die Voraussetzung für eine günstige Siedlungsentwicklung von Corvey und Höxter im Früh- und Hochmittelalter. Der Verlauf des Hellwegs und die Wasserläufe spielten hierbei eine wesentliche Rolle.
Der westfälische Hellweg gilt als wichtigste früh- und hochmittelalterliche West-Ostverbindung für Könige und Kaiser und den Fernhandel nördlich der Mittelgebirgsschwelle. Er verband das für das Königtum bedeutende Rhein-Maas-Gebiet mit dem Harzraum. Von Duisburg, Dortmund, Soest und Paderborn kommend überwand er bei Höxter die Weser und führte als Königsweg über Goslar mit den benachbarten Silberbergwerken am Rammelsberg und Magdeburg bzw. die Königspfalzen südlich vom Harz und Erfurt weiter nach Osten.
Die Westerbachstraße und die Weserstraße geben den Hellwegverlauf in der heutigen Altstadt Höxters wieder. Ein Abzweig des Hellwegs verlief entlang des Grubekanals (heutige Grube- und Corbiestraße und Corveyer Allee) in östliche Richtung auf Corvey zu.
Die Lage des Hellwegverlaufs bei Corvey konnte in den letzten Jahrzehnten durch unterschiedliche Untersuchungen weitgehend ermittelt werden. Unter anderem ist ein Teilstück der sogenannten Bruggestrate (Brückenstraße) von den Archäologen freigelegt und dokumentiert worden.
Schon anlässlich der Überführung der Reliquien des hl. Vitus 836 nach Corvey wird eine Weserfähre erwähnt.
Karte künstl. Wasserläufe in Höxter© Stadt HöxterHöxter und Corvey besaßen im Vergleich zu anderen Siedlungen im Weserraum schon sehr früh eine Vorrangstellung durch feste Weserübergänge. Für Höxter ist spätestens seit 1115 eine Brücke belegt (Brückenmarkturkunde). In Corvey gab es eine Brücke bereits im frühen 13. Jahrhundert (urkundliche Erwähnung 1255, dendrochronologische Datierung eines Pfeilerfundes für das Jahr 1229). Die höxtersche Brücke ist damit die älteste überlieferte am gesamten Weserstromlauf. Der zunehmende Verkehr konnte hier die Weser im Vergleich zu Furten oder Fährübergängen bequemer und weitgehend unabhängiger von der herrschenden Witterung passieren.
Das mittelalterliche Fließwassersystem von Höxter und Corvey wurde von der Grube/dem Bollerbach und der Schelpe gespeist. Die Grube war wohl schon im 9. Jahrhundert von den Corveyer Mönchen ab etwa 5 km oberhalb von Corvey kanalisiert worden, um die Wasserversorgung des Klosters zu gewährleisten. Als sich Höxter um 1150 mit einer Befestigungsanlage umgab, wurde hierfür Grubewasser in den Stadtgraben abgezweigt. Darüber hinaus wurde es mit Hilfe eines verzweigten Systems von Gräben und Rinnen zu einer flächendeckenden Versorgung des Stadtgebietes herangezogen.
Spätestens während des Ausbaus der Stadt Corvey im 12. Jahrhundert wurde das Wasser der Schelpe in den Grubekanal umgeleitet. In einem Vertrag zwischen Höxter und Corvey von 1482 wurde diese Maßnahme erneut aufgegriffen. Den Hintergrund bildeten Konflikte um das Wasser, das in Höxter verbraucht oder verunreinigt wurde und Corvey nicht mehr in genügender Menge und Qualität erreichte.
Dieses künstlich angelegte Fließwassersystem, das heute in weiten Teilen in der Denkmalliste erfasst ist, erfüllte neben der bereits genannten Schutzfunktion weitere wichtige Zwecke als Energieträger für Mühlen, als Trink-, Brauch- und Löschwasserversorger sowie zur Entsorgung.
Henning Fischer
Literatur:
Hans-Georg Stephan: Studien zur Siedlungsentwicklung und -struktur von Stadt und Reichskloster Corvey (800-1670). Eine Gesamtdarstellung auf der Grundlage archäologischer und historischer Quellen. 3 Bde. (Göttinger Schriften zur Vor- und Frühgeschichte, Bd. 26, 1-3) Neumünster 2000.
Andreas König, Holger Rabe, Gerhard Streich (Hrsg.), Höxter - Geschichte einer westfälischen Stadt. Bd. 1: Höxter und Corvey im Früh- und Hochmittelalter. Hannover 2003.
Thema 10: Das Markt- und Münzprivileg für die Reichsabtei Corvey von 833
Das Markt- und Münzprivileg für die Reichsabtei Corvey von 833Marktprivileg für die Reichsabtei Corvey von 833, Pergament, H. 39,5 cm; B. 50 cm.© Stadt HöxterDie Verleihung des Markt- und Münzrechtes an das Kloster Corvey ist im modernen Sinne als Wirtschaftsförderungsmaßnahme zu verstehen. Das eroberte Sachsen war erst seit etwa drei Jahrzehnten erfolgreich in das Karolingerreich integriert: Der Aufbau einer Bistumsorganisation war weitgehend abgeschlossen und die Bischofssitze wurden ausgebaut. Die Strukturen für den öffentlichen Handelsverkehr mussten noch aufgebaut werden. Die Gewinne aus der Münzprägung und das Erheben von Zöllen und Abgaben auf die Waren der reisenden Kaufleute sollten die wirtschaftliche Absicherung der jungen Reichsabtei gewährleisten. Nach Corvey folgten 888 das Marktrecht für den Bischofssitz Bremen, 889 für den Bischofssitz Osnabrück und 900 für das corveysche Horhusen an der Diemel (heute Niedermarsberg). Ab der Mitte des 10. Jahrhunderts nahmen die königlichen Marktrechtsverleihungen in Sachsen deutlich zu.
Mit der Gründung Corveys (822) setzt der Aufschwung der bis zu dieser Zeit wahrscheinlich vornehmlich landwirtschaftlich geprägten Siedlung Höxter ein. Das Marktprivileg und die Überführung der Gebeine des hl. Vitus nach Corvey (836), die das Kloster zu einem frühen Wallfahrtsort in Sachsen werden ließ, führten zu einer deutlichen Belebung der lokalen Wirtschaft. Die Gunst der Lage Höxter-Corveys am Hellweg und als Weserübergang taten ihr übriges. Im Laufe des 9. Jahrhunderts entstanden umfangreiche neue Siedlungsbereiche. Sie gruppierten sich zwischen den Weserfurten bei Corvey und Höxter auf etwa 2500 m Länge in Ost-West-Richtung und 200 bis 500 m in Nord-Süd-Richtung. Damit hatte sich einer der größten Ballungsräume Mittel- und Nordeuropas in der späten Karolingerzeit herausgebildet. Das herrschaftlich-kirchliche Zentrum bildete Corvey, räumlich abgesetzt konzentrierte sich das wirtschaftliche Leben im Bereich der späteren Altstadt von Höxter.
Wahrscheinlich ist auch hier im Bereich der Kilianikirche und des Rathauses der 833 privilegierte Markt zu lokalisieren. Dieser Siedlungskern, der an die Weserfurt des Hellweges grenzte, wurde um 900 mit einer Befestigung aus Graben und Wall besonders geschützt. Bei dem Markt handelte es sich einerseits um einen Lokalmarkt, auf dem Lebensmittel und Produkte aus der Corveyer Grundherrschaft veräußert wurden, sowie andererseits um einen Warenumschlagplatz für fremde Berufshändler, die vor auf dem Hellweg reisten. Neben fränkischen Händlern trugen vornehmlich friesische, wikingische und slawische Wanderkaufleute den Fernhandel in Sachsen, eine hervorgehobene Bedeutung kam den jüdischen Kaufleuten zu. Die Bedeutung der Weser als Handels- und Verkehrsweg ist für das Frühmittelalter nur unzureichend zu erschließen. Es ist nicht auszuschließen, dass friesische Fernhändler mit ihren Schiffen den Corveyer Markt erreichten. Die archäologischen und zeitgenössischen Schriftquellen erlauben bedauerlicherweise kaum Rückschlüsse auf die Handelswaren, die im 9./10. Jahrhundert nach Höxter und Corvey gelangten. Hierzu gehörten unter anderem wahrscheinlich Wein, Honig, Wachs, Wolltuche, Pelze, Keramikgefäße, Glasschmuck, Kupfer, Silber und Sklaven für die islamische Welt. Der Corveyer Münzprägung wird sich ein eigener Beitrag zuwenden.
Andreas König, Stadtarchäologe
Literatur:
Andreas König, Holger Rabe, Gerhard Streich (Hrsg.), Höxter - Geschichte einer westfälischen Stadt. Band 1: Höxter und Corvey im Früh- und Hochmittelalter. Hannover 2003.
Thema 11: Das unbekannte Stift Niggenkerken im Corveyer Weserbogen
Das unbekannte Stift Niggenkerken im Corveyer Weserbogen
In unmittelbarer Nähe zum Kloster Corvey lag mit dem Stift Niggenkerken (Neue Kirche) eine zweite Kircheninstitution, deren Gründung in die Karolingerzeit zurückreicht. Am ehemaligen Standort im Bereich des heutigen Corveyer Hafens sind so gut wie keine Überreste mehr zu erblicken. Erstmals erwähnt wird das zunächst dem hl. Paulus geweihte Stift in den 860er Jahren. Aus Nordfrankreich wurden die Gebeine der hl. Liutrud in das Wesertal gebracht. Die Reliquien ihrer Schwester Pusinna gelangten übrigens zur gleichen Zeit zu dem mit Corvey eng verbundenen Reichsstift in Herford.
Grundriss der Stiftsanlage Niggenkerken. Ausschnitt aus: Michael Koch, Andreas König, Hans-Georg Stephan (Bearb.), Westfälischer Städteatlas, IX. Lieferung. Blatt Höxter und Corvey, Altenbeken 2006, Tafel 2.© Stadt HöxterDank der beiden Bildungszentren Corvey und Niggenkerken reicht die lokale Schultradition über 1100 Jahre zurück und gehört neben den Domschulen mit zu der ältesten in Norddeutschland. In der Klosterschule wurden Benediktinermönche, in der Stiftsschule Weltgeistliche ausgebildet. Lebten die Mönche gemäß ihrer Ordensregel weitgehend abgewandt von der Welt, so standen die in Niggenkerken ausgebildeten Geistlichen in direktem Austausch mit den Menschen. Aufgrund von Grabplatten, die anlässlich des Baus des Hafenbeckens um 1900 zutage traten und nur weibliche Namen trugen, wurde lange Zeit von einem Frauenstift ausgegangen. Die jüngste Forschung neigt aber zu der Einschätzung, dass es sich von Anfang an um ein Männerstift handelt.
Das Stift wurde von einem Kapitel geleitet, das aus Propst, Dechant, Schulmeister und neun weiteren Kanonikern bestand. Mit der Neuen Kirche war eine Schule und die zentrale Begräbnisstätte für den Siedlungsraum Höxter und Corvey verbunden. Dechant und Kapitel stand die Aufsicht über alle Pfarrgemeinden in Höxter sowie an zahlreichen anderen Orten in der Region zu. Als Mitgründer besaß Corvey maßgeblichen Einfluss auf das Paulistift. In dieser Eigenschaft sowie im Hinblick auf die Auseinandersetzungen zwischen Corvey und Paderborn um die Kirchenherrschaft im Corveyer Land erlitt die Abtei eine Niederlage, als das Paulistift 1266/67 auf Befehl des Paderborner Bischofs aus der 1265 zerstörten Stadt Corvey an die Petrikirche in Höxter verlegt wurde.
Siegeltypar des Stiftskapitels (rechts), um 1240, umgearbeitet nach 1266, und gespiegelter Stempelabdruck (links). Aus: Stephan 2000, S. 858, Abb. 258.© Stadt HöxterIn der Folge setzte sich die neue Bezeichnung Petristift durch. Die Papenstraße erhielt ihren Namen wegen der hier befindlichen Wohnstätten (Kurien) der Kanoniker. Auch der heutige Adelshof Heisterman-von-Ziehlberg gehörte einst zum Stift Niggenkerken. Die Stiftskirche entwickelte sich zur bedeutendsten Kirche Höxters, wenn man die Kirchenausstattung und die Anzahl der Kapellen und Stiftungen in Betracht zieht. Die Aufhebung des Petristifts überdauerte bis auf den heutigem Tag der Ehrentitel eines Pfarrdechanten in Höxter. Nach dem Abriss der Petrikirche und der Stiftsschule wurde im frühen 19. Jahrhundert auf denselben Fundamenten die Bürgerschule - heute Stadthaus am Petritor - erbaut.
Michael Koch, Stadtarchivar
Literatur:
Andreas König, Holger Rabe, Gerhard Streich (Hrsg.), Höxter - Geschichte einer westfälischen Stadt. Bd. 1: Höxter und Corvey im Früh- und Hochmittelalter. Hannover 2003.
Wolfgang Niemeyer, Die ehemalige St.-Petri-Kirche zu Höxter. Geschichte, Archäologie und
Architektur einer mittelalterlichen Stadtkirche. (Denkmalpflege und Forschung in Westfalen 33) Bonn 1997.
Hedwig Röckelein, Reliquientranslationen nach Sachsen im 9. Jahrhundert. Über Kommunikation, Mobilität und Öffentlichkeit im Frühmittelalter. (Beihefte der Francia 48) Stuttgart 2002.
Stephan, Hans-Georg: Studien zur Siedlungsentwicklung und -struktur von Stadt und Reichskloster Corvey (800-1670). Eine Gesamtdarstellung auf der Grundlage archäologischer und historischer Quellen. (Göttinger Schriften zur Vor- und Frühgeschichte 26, 1-3) Neumünster 2000.
Thema 12: Die Corveyer Bibliothek des Mittelalters
Die Corveyer Bibliothek des Mittelalters
Es war der 10. April 1634, als kaiserliche Truppen sowohl Höxter als auch das Kloster Corvey plünderten. Dabei raubten sie den gesamten Kirchenschatz und zerstörten auch die jahrhundertealte Bibliothek in der Reichsabtei. Die in der Bibliothek aufbewahrten Bände wurden zerstreut. Mit diesem Tag endete eines der Kapitel der Corveyer Klostergeschichte.
Bereits unmittelbar nach Gründung des Klosters war im 9. Jahrhundert mit dem Aufbau einer Klosterbibliothek begonnen worden.
Die Bücher, Kodizes und Handschriften gelangten auf dreierlei Art nach Corvey:
Eine Grundausstattung stellte das Mutterkloster in Corbie zur Verfügung. Corbie hatte bereits im 9. Jahrhundert eine der bedeutendsten Bibliotheken im Karolingerreich.
Corveyer Evangeliar: Die abgebildete Handschrift ist um 840 in Nordfrankreich (Corbie) entstanden. Das so genannte Corveyer Evangeliar gehörte vermutlich zur Grundausstattung an Büchern, die vom Mutterkloster Corbie an der Somme im 9. Jahrhundert an die Corveyer Klosterbibliothek geschenkt wurde. Heute befindet sich das Corveyer Evangeliar in der Erzbischöflichen Akademischen Bibliothek in Paderborn als Depositum der Dechanei Höxter und ist wohl das älteste erhaltene Buch in der Region.
Foto: Andreas Bartsch© Andreas BartschDarüber hinaus kam es zu Schenkungen insbesondere aus dem kaiserlichen Haus der Karolinger, die für eine gute Ausstattung der Klöster sorgten und besonderes Augenmerk auf Corvey legten.
Hinzu kamen weitere Bücherstiftungen, insbesondere von Mitgliedern aus reichen Adelsfamilien, die ihre nachgeborenen Söhne als Mönche ins Kloster Corvey schickten und zu diesen Anlässen Schenkungen veranlassten.
So baute sich im 9. und 10. Jahrhundert ein umfangreicher Bücherbestand auf, der auch durch das eigene Skriptorium erweitert wurde. Hier wurden Bücher, die man sich von anderen Klöstern ausgeliehen hatte, abgeschrieben. Zumeist handelte es sich dabei um liturgische Texte oder Bücher von christlichen Gelehrten.
Im 10. Jahrhundert erreichte das Corveyer Skriptorium seinen Höhepunkt. Inzwischen wurden die Texte nicht nur einfach abgeschrieben, sondern auch in besonderer Weise gestaltet. Die Abschrift eines Buches war eine mühsame und langwierige Arbeit, die die Mönche in den Skriptorien über eine lange Zeit beschäftigte. Aber sie war die einzige Möglichkeit der Vervielfältigung in jener Zeit.
Für diesen Zeitraum die wichtigsten „Schriftsteller" aus Corvey waren der Mönch Agius, der in Corvey die Vita der Äbtissin Hathumod von Gandersheim verfasste, der Abt Bovo II. als Autor eines Boethius-Kommentars und vor allem Widukind von Corvey, der mit seiner Sachsengeschichte bekannt wurde.
Eine zweite Blütezeit erlebte die Corveyer Bibliothek unter dem Abbatiat von Wibald von Stablo (1146-1158). Sein besonderes Interesse galt den antiken Schriftstellern. So sorgte er dafür, dass Werke von Vergil, Sallust, Livius, Plinius, Ovid, Horaz und Flavius Josephus nach Corvey gelangten und hier abgeschrieben werden konnten. Zudem zeigte sich Wibald im besonderen Maße an Cicero-Handschriften interessiert und sammelte etliche von ihnen. Mit ihm verbunden ist eine letzte geistige Blüte des Klosters, die sich auch im Liber Vitae, einem Gebetsverbrüderungsbuch, in dem sich 75 andere Klostergemeinschaften eingetragen haben, wiederspiegelt.
Nach seiner Regentschaft ist kein wesentlicher Zuwachs in der Bibliothek mehr zu verzeichnen. Auch die Nachrichten über die Bibliothek werden spärlicher und die dort gelagerten Bestände gerieten mehr und mehr in Vergessenheit. Im 16. und 17. Jahrhundert war kaum noch bekannt, welche Schätze tatsächlich in Corvey lagerten. Im Zeitalter des Humanismus wurden zahlreiche Werke aus Corvey verkauft oder gar entwendet. Dadurch wurde der Bestand deutlich dezimiert. Bekanntestes Beispiel hierfür ist die einzig erhaltene Überlieferung der ersten 6 Bücher der Tacitus-Annalen. Diese gelangten auf ungeklärte Weise in die Hand von Giovanni de´ Medici (1475-1521), dem späteren Papst Leo X.
Über die Corveyer Bibliothek der Neuzeit wird ein eigener Beitrag erscheinen.
Auswahl wichtiger Werke der mittelalterlichen Klosterbibliothek:
Hieronymus-Handschrift (8.Jhd.)
De temporum ratione von Beda Venerabilis
De corpore et sanguine Domine von Paschasius Radbertus
Corveyer Evangeliar (um 840)
Sachsengeschichte des Widukind von Corvey (10. Jhd.)
Liber Vitae (12. Jhd.)
Heliand-Handschrift
Tacitus-Annalen
Hubertus Grimm
Literatur:
Die westfälischen Stifts- und Klosterbibliotheken bis zur Säkularisation; Hermann-Josef Schmalor, Bonifatius 2005; Paderborn
Die Bibliothek der ehemaligen Reichsabtei Corvey; Hermann-Josef Schmalor, Westfälische Zeitschrift, Band 147, 1997, S.251 - 269;
Mittelalterliche Bibliotheken des Paderborner und Corveyer Landes, Schriftreihe der Volksbank Paderborn, 29/1998;
Internetseite "Nova Corbeia": http://nova-corbeia.uni-paderborn.de/
Hinweis: Vom 6. Juni - 5.August 2012 wird die vierte Station der Wanderausstellung "Tausend Jahre Wissen –- Die Rekonstruktion der Bibliothek der Reichsabtei Corvey" im Museum für brandenburgische Kirchen- und Kulturgeschichte des Mittelalters auf der Bischofsresidenz Burg Ziesar gezeigt. Nähere Infos unter www.burg-ziesar.de
Thema 13: Könige und Kaiser zu Besuch in Corvey
Könige und Kaiser zu Besuch in Corvey
Da es im Mittelalter keine Hauptstadt gab, musste der Herrscher ständig umherreisen, um auf Hoftagen mit den Großen im Land zusammenzutreffen, zu Gericht zu sitzen und sich ein Bild vom Zustand der Haus- und Reichsgüter machen zu können. Auf den Reisen stützte er sich vor allem auf Pfalzen und Reichsabteien. Vom ersten Besuch 889 durch König Arnulf (887-899, Kaiser ab 896) bis zum letzten 1203 durch König Otto IV. (1198-1218, Kaiser ab 1209) lassen sich insgesamt 23 Aufenthalte sicher in den Schriftquellen nachweisen. Dank zahlreicher Reisebelege für den Hellweg, an dem Corvey lag, ist mit deutlich häufigeren Aufenthalten des Herrschers - 100 und mehr - zu rechnen.
Arnulf und Otto IV.: das erste und das letzte Reichsoberhaupt in Corvey, wie sie im barockzeitlichen Kaisersaal von Schloss Corvey abgebildet sind (Fotos: Peter Knaup / Kulturkreis Höxter-Corvey gGmbH, bearbeitet: Michael Koch).© Peter KnaupDie Nähe der Herrscher zu Corvey spiegelt sich in der Bedeutung des hl. Vitus als Reichsheiliger sowie in den Geschenken zu Ehren der Abtei, zugleich aber auch zum Ausgleich für jene Belastungen, die der Abtei im Reichsdienst aufgebürdet wurden. Zum Juni 1019 vermerken die Corveyer Annalen, dass Kaiser Heinrich II. (1014-1024, König ab 1002) mit großem Gefolge zum Vitusfest kam. Legt man Angaben zum täglichen Lebensmittelbedarf des Herrscherhofes zugrunde, so wurden an ihm bis zu 1000 Schweine und Schafe, 10 Fuder Wein, 10 Fuder Bier, 1000 Malter Getreide, 8 Rinder, außerdem Hühner, Ferkel, Fische, Eier, Gemüse und vieles mehr konsumiert. Das erscheint recht hoch gegriffen, berücksichtigt jedoch den gesamten Tross der Knechte, Bediensteten und Soldaten, der Gäste, Gesandtschaften und Boten sowie die Scharen von Bittstellern und Unterhaltungskünstlern, die sich für gewöhnlich am Hofe einstellten.
Wir wissen, dass sich die meisten Reichsoberhäupter in Corvey aufhielten. Nur ungenügend sind wir aber über die von ihnen und ihrem Gefolge genutzten Gebäude und Plätze unterrichtet. Weiter umstritten ist die These vom Kaiserthron auf der Empore des „Johanneschores" im Obergeschoss des Westwerks. Mit Sicherheit aber wurden hier repräsentative Veranstaltungen mit dem Herrscher im Mittelpunkt durchgeführt. Mutmaßlich fand hier oder vor dem Westwerk 1028 in Anwesenheit Kaiser Konrads II. (1027-1039, König ab 1024) ein Hoftag statt, bei dem als Beisitzer und Zeugen im Gericht der Erzbischof von Magdeburg, mehrere Bischöfe, Herzöge, Grafen und weitere Große anwesend waren. Auf die Nachricht vom Tode des Abtes Druthmar am 15. Februar 1046 kam König Heinrich III. (1039-1056, Kaiser ab 1046) selbst nach Corvey und leitete am 23. Februar die Wahl eines Nachfolgers. Auch von König Konrad III. (1138-1152) wissen wir, dass er 1145 einen Hoftag in Corvey abhielt.
Während der Herrscher und sein engstes Gefolge wohl in festen Gebäuden Unterkunft fanden, wurden für die zahlreichen Besucher von Hoftagen, wie es etwa auch anlässlich der Überführung der Vitusreliquien 836 überliefert ist, Zelte im nahen Umfeld des Klosters errichtet. Der ehemalige Herrscherpalast wird südlich der Corveyer Klosterkirche vermutet. Dafür gibt es allerdings nur Aussagen von Johannes Letzner, der in seiner Corveyschen Chronik (1604) ein „Kaiserhaus" und eine „keiserliche Capell" erwähnt, an deren Stelle zu seiner Zeit Kräutergärten der Stiftsherren bewirtschaftet wurden. Die Existenz einer „Königskapelle" stellen Urkunden des 14. und 15. Jahrhunderts sicher; diese wird zugleich als Gertrudskapelle und zum Laienhospital gehörig bezeichnet. Nach Letzner lag auch diese Kapelle südlich der Abteikirche.
Michael Koch, Stadtarchivar
Literatur:
Adelhard Gehrke, Die Besuche der deutschen Könige und Kaiser in der Reichsabtei Corvey. Paderborn 1995.
Hans Heinrich Kaminsky, Studien zur Reichsabtei Corvey in der Salierzeit. (Abhandlungen zur Corveyer Geschichtsschreibung 4) Köln, Graz 1972.
Hans-Georg Stephan, Studien zur Siedlungsentwicklung und -struktur von Stadt und Reichskloster Corvey (800-1670). [...] (Göttinger Schriften zur Vor- und Frühgeschichte 26, 1-3) Neumünster 2000.
Thema 14: Das älteste Münzprivileg östlich des Rheins
Die Münzprägung der Reichsabtei Corvey bis 1787
Bereits in Teil 10 dieser Serie wurde von der Verleihung des Markt- und Münzrechtes an die Abtei Corvey im Jahr 833 durch Ludwig den Frommen und die hieraus resultierenden wirtschaftlichen Vorteile für den Siedlungsraum Höxter-Corvey berichtet. Somit besaß das Kloster das königliche Recht, eigene Münzen zu prägen. Im Jahr 900 erhielt Corvey das Münzrecht für Horhusen (Niedermarsberg) und 945 für Meppen, im 13. Jahrhundert folgten Höxter und Volkmarsen. Der Ursprung der 1253 aufgegebenen Corveyer Münzstätte in Croppenstedt bei Halberstadt ist unbekannt.
Münzen aus Corvey: Hochmittelalterliche Pfennige der Abtei Corvey: 1 König Heinrich II. (1002-14). – 2 Abt Rothard (1046-50). – 3 Abt Arnold (1051-55). – 4 Abt Saracho (1056-71). M. 2:1.© Stadt HöxterFrühe Prägungen der Corveyer Münzstätte sind bisher noch nicht bekannt bzw. identifiziert worden. Durch die Münzreformen Karls des Großen und seines Sohnes Ludwig des Frommen erhielten die Reichsdenare (Pfennig) ein einheitliches Erscheinungsbild, auf die Angabe eines Prägeortes wurde verzichtet. Die älteste überlieferte Corveyer Münze mit den Umschriften HEINRICHVSREX und CORBEIASX ahmt Dortmunder Pfennige aus der Zeit Heinrichs II. (1002-14) nach. Erst ab der Mitte des 11. Jahrhunderts sind Pfennige der Äbte Rothard (1046-50), Arnold (1051-55), Saracho (1056-71) und Warin (1071-79) wieder sicher der Corveyer Münzstätte zuzuweisen.
Über das Corveyer Münzwesen im 12. Jahrhundert ist so gut wie nichts bekannt. Dies ändert sich erst mit Abt Hermann v. Holte (1223-54), auf dessen Pfennigen erstmals der hl. Vitus, Schutzpatron des Klosters, abgebildet wird. Als Münzbild ist das Vitusmotiv bis 1765 gebräuchlich. Die unter Hermann v. Holte geprägten Pfennige benennen die 1265 untergegangene Stadt Corvey als Münzstätte. Unter Abt Heinrich III. v. Homburg (1272-1306) wird nunmehr Höxter als Prägeort angeben. In Höxter sind seit 1235 Ratsherren und Bürgermeister mit dem Zunamen monetarius (Münzmeister) überliefert. Noch vor der Mitte des 14. Jahrhunderts endete vorerst die höxtersche Pfennigprägung. Bis zu dieser Zeit bildete der Pfennig aus Silber die einzige reale Wertstufe der Währung. Für die Begleichung größerer Beträge wurden Silberbarren eingesetzt.
Seit dem 15. Jahrhundert kontrollierte die Stadt Höxter die Münzstätte, die sie von den Corveyer Äbten als Lehen erhalten hatte. Aus dem Jahr 1476 ist ein Münzmeistervertrag des höxterschen Rates erhaltenen. Unter dem Abbatiat von Franz v. Ketteler (1504-47) begann mit der Einführung von Großgeld eine neue Phase der Münzprägung. Ab 1541 treten mit Körtling (⅓ Mariengroschen), Mariengroschen und Taler erstmals Werte über Pfenniggröße auf. Mit Inkrafttreten der Reichsmünzordnung von 1566 endete die Prägetätigkeit der Stadt Höxter. Der letzte Standort der höxterschen Münze befand sich seit 1553 auf dem östlichen Eckgrundstück Rodewiekstraße-Teufelsgasse.
Erst unter Abt Dietrich v. Beringhausen (1585-1616) wurde 1606 die nunmehr wieder von Corvey betriebene Münzprägung aufgenommen. Die wechselvolle Geschichte des neuzeitlichen Münzwesens der Reichsabtei Corvey wurde 2007 von Peter Ilisch und Arnold Schwede detailliert vorgelegt und ist hier nachzulesen. Mit Abt Theodor v. Brabeck (1776-94) endet die über 900jährige Geschichte der Corveyer Münze. Die letzten geprägten Münzen sind kupferne 2 und 4 Pfennigstücke aus dem Jahr 1787. Von 1606 bis 1660 war die Corveyer Münzstätte in der Brüderstraße angesiedelt und von 1682 bis 1690 im Falkenbergschen Hof (Rodewiekstr. 26). Danach verzichtete Corvey auf die eigene Herstellung und ließ seine Münzen in den ausländischen Münzstätten Osnabrück, Braunschweig, Neuhaus bei Paderborn, Münster und Clausthal (Harz) prägen.
In den vergangenen 26 Jahren wurden bei Ausgrabungen in Höxter 89 Corveyer Münzen geborgen, darunter 20 mittelalterliche Pfennige. Das älteste Fundstück, ein halbierter Pfennig des Abtes Rothard (1046-50), wurde 1993 auf dem Grundstück Rodewiekstraße 1 ausgegraben.
Andreas König, Stadtarchäologe
Literatur:
Andreas König, Holger Rabe, Gerhard Streich (Hrsg.), Höxter - Geschichte einer westfälischen Stadt. Band 1: Höxter und Corvey im Früh- und Hochmittelalter. Hannover 2003.
Peter Ilisch, Kleine Corveyer Münzgeschichte. Heimatkundliche Schriftenreihe 30, Volksbank Paderborn 1999.
Peter Ilisch, Arnold Schwede, Das Münzwesen im Stift Corvey 1541-1794. Paderborn 2007.
Thema 15: Die „Sachsenchronik
Die „Sachsenchronik" Widukinds von Corvey: Stammesgeschichte und Herrscheralltag der OttonenEvangeliare: Corveyer Buchmalerei aus der Zeit Widukinds in einem Evangeliar aus der Kathedrale von Reims (links), heute in der Walters Art Gallery Baltimore, und in einem Evangeliar in der Wolfenbütteler Herzog-August-Bibliothek (rechts). Aus: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen (1993), Kat.-Nr. VI-67, VI-69.© Stadt HöxterSeinem Namen nach stammte er aus dem sächsischen Hochadel und war ein Nachfahre jenes Herzogs Widukind, der anderthalb Jahrhunderte zuvor den sächsischen Widerstand gegen Karl den Großen angeführt hatte. Somit gehörte er zur weitläufigen Verwandtschaft der Königin Mathilde, Gemahlin des ersten sächsischen Königs Heinrich I. (919-936) aus der Dynastie der Ottonen, und ihres Sohnes König Otto dem Großen (936-973). Widukind verstarb nach 973. Sein Werk widmete er der jungen Mathilde (955-999), Tochter Ottos und erster Äbtissin zu Quedlinburg, die er in die Geheimnisse königlicher Herrschaftsausübung einweihte. Er schrieb als Schüler antiker Schreibkunst und dennoch eigenständig. Dieser literarischen Kostbarkeit aus Corvey, die nicht im Original, sondern in Abschriften des 11. bis 13. Jahrhunderts erhalten ist, kommt in der modernen Geschichtsschreibung eine herausragende Stellung zu.
Titelblatt von Widukinds „Sachsenchronik“ in deutschsprachiger Ausgabe von Reinhold Schottin 1852, erschienen in der Reihe „Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit“, hrsg. u. a. von Jacob Grimm, Ludwig Ranke. Exemplar im Stadtarchiv Höxter.© Stadt HöxterIm ersten Buch werden die Frühgeschichte des sächsischen Stammes und die Zeit Heinrichs I. vorgestellt, im zweiten und dritten die Taten und Leistungen Ottos des Großen. Widukind leitet die Sachsen mythologisch von einem sehr alten Volk ab, erzählt von ihrer Schiffslandung an der Unterelbe, wo sie sich gegen die dort ansässigen Thüringer durchsetzen, und der Landnahme. Das Verhältnis zu den Franken betreffend konstruiert Widukind anstelle von Widerstand und Unterwerfung eine zukunftsweisende gemeinsame Geschichte: Auf Bitten der Franken kämpfen die Sachsen mit ihnen gegen die Thüringer, wodurch sie Bundesgenossen und Freunde werden. Durch die Mission Karls des Großen werden sie dann zu einem Volk. Nach Widukinds Darstellung geht der Herrschaftsanspruch im Frankenreich schließlich auf die Sachsen über, was bereits durch die Überführung der Glück verheißenden Vitusreliquien von St. Denis ins Wesertal vorweggenommen wurde. Widukind stilisiert hier und an anderer Stelle den Schutzheiligen seines Klosters zum Reichsheiligen.
Widukinds „Sachsenchronik" enthält eine Fülle von wichtigen Nachrichten und Berichten - darunter über die Schlachten gegen die Ungarn, den Burgenbau und die Burgenordnung Heinrichs I. und die Krönung Ottos 936 in Aachen - und prägt unser heutiges Bild von den ersten sächsischen Herrschern und der Kultur der Ottonenzeit. Die Geschichtswissenschaft erblickt in der „Sachsenchronik" Aspekte nationalgeschichtlichen Denkens, das, wenngleich kontrovers diskutiert, in einem Zusammenhang mit der Entwicklung zum modernen europäischen Nationalstaat gesehen wird. Während nach Widukind im Reich universalgeschichtliche Geschichtsentwürfe zur Entfaltung kamen, wurden seine Ansätze, wie der Historiker Norbert Kersken vom Deutschen Historischen Institut Warschau ausführt, im östlichen Mitteleuropa prägend und zukunftsweisend für das dortige mittelalterliche Geschichtsdenken.
Michael Koch, Stadtarchivar
Literatur:
Peter Christian Jacobsen, Die lateinische Literatur der ottonischen und frühsalischen Zeit. In: Klaus von See (Hrsg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 6: Europäisches Frühmittelalter. Wiesbaden 1985, S. 437-478.
Laudage, Johannes: Widukind von Corvey und die deutsche Geschichtswissenschaft. In: Johannes Laudage (Hrsg.), Von Fakten und Fiktionen: mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung. (Europäische Geschichtsdarstellungen, Bd. 1) Köln 2003, S. 193-224.
Widukind von Corvey: Res gestae Saxonicae / Die Sachsengeschichte [lateinisch/deutsch], übersetzt und hrsg. von Ekkehart Rotter und Bernd Schneidmüller. Stuttgart: Reclam 2006.
Thema 16: Corvey und Paderborn, ein gespanntes Verhältnis
Corvey und Paderborn, ein gespanntes Verhältnis
Im frühen Mittelalter erhielten Klöster und Bistümer gleichsam von den Machthabern den Auftrag zu missionieren und ein Netz von Pfarrkirchen aufzubauen. Da Corvey in der Diözese Paderborn gegründet wurde und hier dem Bischof eine fast uneingeschränkte geistliche Herrschaft zustand, führte dies zwangsläufig zu einer Konkurrenzsituation um die geistliche Vorherrschaft. Der Bischof konnte ein Aufsichtsrecht beanspruchen, das die Einsetzung und Weihe eines Abtes und die Weihe von klösterlichen Eigenkirchen sowie andere Vorrechte umfasste. Dementsprechend wurde die Weihe eines ersten Corveyer Kirchenbaus 822 durch Bischof Badurad vorgenommen. Corvey missionierte im Umfeld des Klosters und erhielt die Missionszentren Marsberg (826), Meppen (834) und Visbeck (855), später auch die Klöster Gröningen und Kemnade mit den dazugehörigen Kirchen übertragen. So entstand ein weitgestreuter geistlicher Herrschaftsbereich von einem Umfang und einer Bedeutung, wie ihn kein anderes Bistum oder Kloster in Sachsen aufweisen konnte. Im Mittelalter unterstanden etwa 80 Pfarrkirchen sowie weitere Benefizien in den Bistümern Paderborn, Osnabrück, Halberstadt, Mainz, Minden, Köln, Bremen und Utrecht der geistlichen Herrschaft des Abtes von Corvey.
Corveyer Liber Vitae (Buch des Lebens) mit Einträgen Corveyer Patronatskirchen des 14. Jahrhunderts (aus der Faksimile-Ausgabe von Karl Schmid und Joachim Wollasch, Wiesbaden 1983).© Stadt HöxterIm Jahr 872 wurde Corvey dem besonderen Schutz des Hl. Stuhls unterstellt. Erzbischof Liutbert von Mainz bestätigte 888 alle bisherigen königlichen und päpstlichen Privilegien, darunter die Befreiung von allen Abgaben an die Diözesanbischöfe, deren Rechte auf den geistlichen Bereich beschränkt wurden. König Konrad I. und die nachfolgenden ottonischen Herrscher beurkundeten und bestätigten gar die Zehntfreiheit aller Herrenhöfe des Klosters gegenüber den Bischöfen. Der Corvey-Experte Hans Heinrich Kaminsky vertritt die Ansicht, dass vor allem „der Zehntbezug aus bedeutenden Teilen der Diözesen Osnabrück und Paderborn Corvey zu einer Ausnahmestellung unter den deutschen Reichsabteien [verhalf]". Am 3. April 981 verfügte Papst Benedikt VII. die Exemtion Corveys: Die Reichsabtei unterstand jetzt unmittelbar und ausschließlich dem Hl. Stuhl, doch nicht allzu lange. Von dem eine Klosterreform ablehnenden Mönchskonvent zunächst aus Corvey vertrieben erwirkte Bischof Meinwerk (1009-36) von Kaiser Heinrich II. die Entfernung des widerspenstigen Abtes und die Aufhebung der Exemtion. Anschließend herrschte zeitweilig ein freundschaftliches Einvernehmen und im Investiturstreit standen Kloster und Bistum beide gegen Kaiser Heinrich IV. auf Seiten der päpstlichen Partei. Allerdings musste Corvey den Verlust von über zwei Dritteln seiner reichen Zehnteinkünfte aus dem Bistum Osnabrück verschmerzen.
Zu den frühen Eigen-/Patronatskirchen Corveys gehören St. Georg in Amelunxen (links) und St. Johannes der Täufer in Godelheim (rechts)© Stadt HöxterUnter Abt Markward (1090-1107) trat erneut eine Wende ein, die sich anhand der Klosterordnung ablesen lässt: Nach der Wahl durch den Mönchskonvent und erfolgter Zustimmung durch Klerus, Ministerialen und Vasallen nahm der Abt den Abtsstab selbst an sich und ließ sich erst danach vom Bischof die Weihe erteilen. Unter Abt Wibald (1146-58) erhielt Corvey die Exemtion erneut vom Papst verbrieft. Von existenzieller Bedeutung waren die Konflikte, die seit dem 13. Jahrhundert ausbrachen. Niemals zuvor war Corvey mehr auf den fernen Papst und den nahen Bischof angewiesen. Wiederholt zeigte sich die enge Verknüpfung von geistlicher und weltlicher Herrschaft im Mittelalter, etwa bei der Zerstörung der Stadt Corvey und der corveyschen Brunsburg durch den Bischof oder der Entführung der Vitusreliquien 1399 aus dem zerstrittenen Corvey zur Burg des Paderborner Domkapitels in Lippspringe. Beinahe hätte dieses unerhörte Ereignis zur dauerhaften Inkorporation[1] des Klosters in das Bistum geführt. Das Verhältnis blieb angespannt. Schließlich festigte sich in Auseinandersetzung mit dem Bischof und den Nachbarmächten sowie mit Unterstützung des Hl. Stuhls eine eigenständige Diözese. Diese Entwicklung fand ihren Höhepunkt in der Erhebung der Abtei zum Bistum (1792/94).
Michael Koch, Stadtarchivar
Literatur:
Hans Heinrich Kaminsky, Studien zur Reichsabtei Corvey in der Salierzeit. (Abhandlungen zur Corveyer Geschichtsschreibung 4) Köln, Graz 1972.
Kunst und Kultur im Weserraum 800-1600. Ausstellung des Landes Nordrhein-Westfalen in Corvey 1966. Bd. 1: Beiträge zu Geschichte und Kunst. 1.- 4. Auflage Münster 1966/67.
[1] Bei der Inkorporation gingen die Vermögenswerte einer Kirche an die übernehmende Institution über.
Thema 17: Das untergegangene Kloster tom Roden
Das untergegangene Kloster tom Rodentom Roden Perspektive© Stadt HöxterIn der höxterschen Feldmark nordöstlich der Stadt bestand im Mittelalter die kleine Klosteranlage tom Roden. Sie wurde endgültig 1538 aufgegeben und war fortan dem Verfall preisgegeben. Die Kirche und die massiven Klostergebäude wurden als Steinbruch für Baumaßnahmen in Höxter und Corvey genutzt und verschwanden spurlos. Das führte soweit, dass das Kloster weitgehend in Vergessenheit geriet. Erst die systematischen archäologischen Geländebegehungen des jungen H.-G. Stephan, heute Professor für Mittelalter- und Neuzeitarchäologie an der Universität Halle-Wittenberg, führten in den frühen 1970er Jahren zur Wiederentdeckung der Benediktinerpropstei. Von 1976 bis 1980 wurde das Kloster vom westfälischen Amt für Bodendenkmalpflege mit guten Ergebnissen ausgegraben. 1990/91 wurden im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme der Stadt Höxter die Grundmauern der Klosteranlage aufgemauert, um somit das Bodendenkmal für Besucher begeh- und erfahrbar zu machen.
Die Gründungsgeschichte des um 1150 erbauten Klosters ist nicht überliefert. Der für ein Kloster ungewöhnliche Name tom Roden (zur Rodung) verweist auf hochmittelalterliche Landgewinnung in der Lüre. Die erste Erwähnung mit Nennung der Klosterkirche St. Maria Magdalena erfolgte 1184 in einer päpstlichen Urkunde, die tom Roden als Corveyer Besitz bestätigt. Der ehemalige höxtersche Stadtarchivar H.-J. Brüning und H.-G. Stephan erwogen, in dem Kloster eine Sühnestiftung des Corveyer Vizevogtes Widukind von Schwalenberg zu sehen. Er hatte im Januar 1152 den Corveyer Friedhof überfallen und beraubt. Im Juni desselben Jahres plünderte er zusammen mit seinem Bruder Volkwin Höxter und erpresste Lösegelder. 1156 erschlug Widukind den höxterschen Stadtgrafen Dietrich bei einer Gerichtsverhandlung in einer Kirche.
Mit Dethmar wird 1244 erstmals ein Propst des Klosters überliefert. Er gehörte, wie seine Nachfolger, dem Corveyer Klosterkonvent an und unterstand dem Abt. Die tom Rodener Pröpste, die vermutlich immer nur einer kleinen Mönchsgemeinschaft vorstanden, stammten mehrheitlich aus dem regionalen Adel. Die wahrscheinlich skrupelloseste Figur in der Klostergeschichte war der ehemalige Propst Hermann von Stockhausen, seit 1455 Abt von Helmarshausen. Nach einem Zerwürfnis mit dem Corveyer Abt überfiel und plünderte er 1456 tom Roden und Corvey. 1462 suchte er tom Roden erneut heim. Ein Jahr später wählten ihn die Corveyer Mönche zu ihrem Abt.
tom Roden Grundriss© Stadt Höxter
Wie die archäologischen Ausgrabungen zeigten, bestand das gut ausgestattete kleine Kloster aus der Kirche im Süden, an die im Norden das Kreuzganggeviert mit den Klostergebäuden anschloss. Bei dem durchaus repräsentativen Sakralbau handelte es sich um eine dreischiffige Pfeiler- oder Säulenbasilika mit einem quadratischen Turm im Westen. Im Innern trennte eine Schranke (Lettner) den Mönchschor im Osten von der Gemeindekirche im Westen. Die Kirche besaß zwei Hauptaltäre: im Langhaus den Altar des Hl. Kreuzes und im Chor den der Kirchenpatronin. Am 3. Mai (Fest der Kreuzauffindung) und am 22. Juli (Namenstag der Patronin) führten große Prozessionen die corveysche und höxtersche Geistlichkeit nach tom Roden. Zu welcher Dorfgemeinschaft die regelmäßigen Gottesdienstbesucher gehörten, ist nicht bekannt. Ihre Verstorbenen wurden auf dem Friedhof an der Südseite der Basilika beigesetzt.
Der an die Kirche angebaute Ostflügel bildete das Mönchshaus. Es beherbergte im Erdgeschoss wahrscheinlich unter anderem die Sakristei, den Kapitelsaal (Versammlungsraum) und die Bibliothek. Im Obergeschoss des massiven Steinbaues befanden sich der Schlafsaal und die Kleiderkammer. Alle Räume im Erdgeschoss waren beheizbar, unter anderem mit Warmluftheizungen. Den nördlichen Abschluss des Mönchhauses bildeten die Abortanlage über dem mit Schelpewasser gespeisten Kanal und ein separater Raum, der vermutlich als Gäste- oder Siechenhaus genutzt wurde. Bei dem Nordflügel handelte es sich wahrscheinlich um einen eingeschossigen Fachwerkbau, in dem die Küche mit einer Wasserleitung aus Bleirohren, der Speisesaal und eine unterkellerte Vorratskammer untergebracht waren.
Andreas König, Stadtarchäologe
Literatur:
Bernd Korzus (Hrsg.), Kloster tom Roden. Eine archäologische Entdeckung in Westfalen. Münster 1982.
Thema 18: Abt Wibald von Stablo
Abt Wibald von Stablo
Wibald von Stablo hatte nicht die Absicht, Abt von Corvey zu werden. Als man ihm die Nachricht von der einstimmigen Wahl des Konventes im Jahre 1146 überbrachte, suchte er intensiv nach Gründen, die Wahl abzulehnen. Denn als Abt des Doppelklosters Stablo und Malmedy sowie in Diensten des Königs sah er kaum Möglichkeiten, ein weiteres bedeutendes Kloster zu leiten. Seine Wahl ist jedoch im Zusammenhang mit den staufisch-welfischen Auseinandersetzungen in Sachsen zu betrachten und so war es dem staufischen König Konrad III. ein besonderes Anliegen, einen Mann seiner Partei in dem wichtigen Sachsenkloster auf dem Abtstuhl zu sehen. Denn mit Wibald von Stablo hatte König Konrad III. endlich die Möglichkeit, größeren Einfluss in Sachsen auszuüben.
Abt Wibald von Stablo und Corvey in der barockzeitlichen Äbtegalerie im Schloss Corvey, wobei allerdings die Bezeichnung "Comes/Graf von Northeim" in die Irre führt (Foto: Stadtarchiv Höxter, Sammlung Hermann Krekeler)© Stadtarchiv Höxter - Sammlung KrekelerWibald von Stablo wurde im Frühjahr 1098 in Niederlothringen geboren. Seine Schulausbildung absolvierte er im Kloster Stablo, 1117 trat er dann als Mönch in das Kloster Waulsort ein, wo er schnell zum Pförtner und Schulleiter aufstieg. 1118 wechselte er nach Stablo und zählte dort schon bald zur Führungsriege des Klosters. 1130 wurde er schließlich zum Abt von Stablo gewählt. Fünf Jahre später holte ihn König Lothar III. in den Reichsdienst, wo er vor allen Dingen in dessen Kanzlei sowie als Botschafter wichtige Funktionen übernahm. Während eines Kriegszuges Lothars III. nach Süditalien setzte der König ihn sogar als Abt des benediktinischen Mutterklosters Montecassino ein. Hier konnte er sich jedoch nur sechs Wochen halten, da ihm nach dem Rückzug des Königs aus Italien die Machtmittel fehlten. Durch seine Tätigkeit für den König knüpfte Wibald umfangreiche Beziehungen zu weltlichen wie geistlichen Führungskräften im gesamten Reich. Durch seine mehrfachen Rom-Aufenthalte lernte er zudem Vertreter der Kurie bis hin zum Papst kennen. Diese guten Beziehungen sollten ihm während seiner Abtszeit in Corvey wertvolle Dienste leisten. Denn als er 1146 sein Abbatiat in Corvey antrat, musste er sich gegen zahlreiche innere wie äußere Feinde des Klosters erwehren.
Einer seiner Vorgänger, Heinrich I. aus dem Geschlecht der Grafen von Northeim, der abgesetzt worden war, versuchte mit Hilfe von Konventsmitgliedern sowie Klosterministerialen die Macht zurückzugewinnen. Aber auch sein dauernder Kampf mit den Vizevögten von Schwalenberg, mit den Teilvögten der Außenbesitzungen sowie mit Klosterministerialen begleiteten Wibalds Amtszeit. Nach seinem Amtsantritt war es sein vorrangiges Bestreben, die ursprünglichen Besitzverhältnisse der Reichsabtei Corvey wiederherzustellen und auch die geistlichen und baulichen Voraussetzungen in Corvey zu verbessern. So sorgte er dafür, dass das Archiv geordnet und sowohl das Skriptorium als auch die Bibliothek neu bestückt wurden. Im regen Austausch mit anderen Abteien und Bischofssitzen ließ sich Wibald vornehmlich antike Handschriften nach Corvey kommen, die dort abgeschrieben und der eigenen Bibliothek zugefügt wurden. Besonders die Schriften von Cicero hatten es ihm dabei angetan. Auch die Erneuerung des Westwerkes der Klosterkirche mit dem Umbau zur heutigen Zweiturmfront und der Neubau des Abtspalastes gehen auf seine Initiative zurück.
Viel Zeit blieb Wibald allerdings nicht, sich intensiv um Corvey zu kümmern, denn seit 1147 stand er im umfangreichen Kanzleidienst von König Konrad III., der seine Anwesenheit bei Hoftagen und Reichsversammlungen aber auch bei Italien- und anderen Feldzügen erforderlich werden ließ. Er entwickelte sich dabei zu einem Spezialisten für Italien- und Byzanzfragen, dessen Rat für den König unverzichtbar war.
Doch trotz dieser umfangreichen Aufgaben im Staatsdienst sah er sich in erster Linie als Mann der Kirche. Es wäre ihm sicher ein Leichtes gewesen, weitere bedeutende Pfründe wie beispielsweise einen Erzbischofsstuhl zu erlangen. Doch dieses lehnte er genauso ab, wie weitere an ihn herangetragene Abtswürden.
Mit Wibalds Namen bleibt die letzte Blütezeit Corveys verbunden. Allerdings war seine Amtszeit zu kurz, um nachhaltigen Erfolg zu erzielen. Denn bereits im Jahr 1158 verstarb er auf dem Rückweg von seiner zweiten Reise nach Byzanz im mazedonischen Monastir. Seine Gebeine wurden ein Jahr später von seinem Bruder Erlebald nach Stablo geholt, wo sie endgültig beigesetzt wurden.
Hubertus Grimm
Literatur: Franz-Josef Jakobi: Wibald von Stablo; Benediktinischer Abt in der frühen Stauferzeit, Münster 1979
Thema 19: Zeugen unruhiger Zeiten: Die Wildburg bei Wehrden und die Brunsburg bei Godelheim
Zeugen unruhiger Zeiten: Die Wildburg bei Wehrden und die Brunsburg bei Godelheim
Nach dem Tod von Abt Wibald v. Stablo (1146-58) begann die Reichsabtei Corvey ihre bis dahin noch große Bedeutung im Reich und beim heiligen Stuhl in Rom zu verlieren. Mit der Schwächung des Klosters waren zunehmende Konflikte mit den benachbarten Landesherren um die Vorherrschaft im Oberweserraum verbunden, vor allem mit den Erzbischöfen von Köln, den Bischöfen von Paderborn, den Landgrafen von Hessen und den Herzögen von Braunschweig. Die Corveyer Äbte waren deshalb bemüht, ein möglichst geschlossenes Territorium zu schaffen und durch den Bau von Burgen zu sichern.
Wildburg© Stadt HöxterUnter Abt Konrad (1160-89) wurde zur Verteidigung des Klosters eine Burg auf dem Wildberg bei Wehrden in exponierter Spornlage erbaut. Sie wird nur ein einziges Mal in einer Urkunde von Papst Viktor IV. 1162 überliefert. Die etwa 1 Hektar große Wehranlage wird durch einen in den Fels gehauenen Halsgraben und eine dahintergelegene, inzwischen verstürzte Befestigungsmauer vom Bergplateau abgetrennt. Durch die ehemalige Torgasse gelangt der Besucher in die Burg. Im Inneren sind noch heute Überreste der Bebauung zu erkennen, bei denen es sich überwiegend um Keller handelt. Nach Ausweis der archäologischen Funde kann die für ihre Zeit großbemessene Wildburg nicht lange bestanden haben. Inzwischen vermutet Prof. Dr. H.-G. Stephan, dass sie bereits 1178 beim Kriegszug des Kölner Erzbischofs Philipp v. Heinsberg gegen Heinrich den Löwen zerstört wurde.
Brunsburg© Stadt HöxterEbenfalls zu den älteren Corveyer Landesburgen gehört die Brunsburg bei Godelheim. An der Stelle der frühmittelalterlichen Wallburg auf dem Brunsberg, die in die Zeit der Sachsenkriege Karls des Großen (772-804) datiert, ließ Abt Widukind (1189-1203) eine neue Höhenburg errichten. Bereits 1198 stellte er eine Urkunde auf der als fürstliche Nebenresidenz genutzten Befestigung aus. Die knapp 2 Hektar große Hauptburg wurde mit Burgmannen besetzt, bei denen es sich um Ritter aus den wichtigen Corveyer Dienstadelsfamilien von Amelunxen, Godelheim und Niggenkerken handelte. Die Geschichte der Brunsburg endete nach einem Jahrhundert. Angeblich wurde sie 1294 von dem Paderborner Bischof Otto v. Rietberg (1277-1307) zusammen mit den Grafen v. Schwalenberg und Einwohnern Höxters zerstört und nicht wieder aufgebaut.
Noch heute zeugen der mächtige Burggraben und die zu einem Wall verstürzte Ringmauer von der einstigen Größe und Wehrhaftigkeit der Anlage. Im Inneren der Hauptburg sind noch mehrere Schutthügel von zerfallenen Gebäuden und Kellervertiefungen zu erkennen. In einem besonders großen, zentral gelegenen Schutthügel wird der Standort der repräsentativen Abtsresidenz vermutet. An der nördlichen Ringmauer erhebt sich ein noch über 4 m hoher Schuttkegel, bei dem es sich augenscheinlich um den Bergfried handelt. Möglicherweise existierte im Bereich der südwestlichen Mauer ein zweiter Bergfried. Die übrigen im Gelände erkennbaren Gebäudereste sind wahrscheinlich als Domizile der Burgmannen zu deuten. Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts anscheinend noch eindrucksvollen Ruinen der ehemaligen Abtsburg fielen dem Chausseebau zwischen Höxter und Godelheim zum Opfer, wofür sie als Steinbruch genutzt wurden.
Wildburg und Brunsburg waren nicht die einzigen Befestigungen, die im 12. und 13. Jahrhundert die weitgestreuten Besitzungen des Klosters Corvey sicherten. Hierzu gehörten auch die Burg Lichtenfels in Waldeck, die Kugelsburg bei Volkmarsen, die Burg in Obermarsberg, die Burg in der Stadtwüstung Blankenrode bei Lichtenau, die Bramburg bei Hemeln, die Burg Landegge bei Meppen und die Starkenburg an der Mosel.
Die abgebildeten digitalen Geländemodelle sind das Ergebnis einer Befliegung der Siedlungslandschaft um Corvey unter Anwendung der Prospektionsmethode des Airborne-Laserscannings. Die Bearbeitung erfolgt zur Zeit an der Ruhr-Universität Bochum.
Andreas König, Stadtarchäologe
Literatur:
Koch, Michael und König, Andreas 2009: Die Brunsburg bei Höxter-Godelheim, Kreis Höxter. Frühe Burgen in Westfalen 29, Münster 2009.
Andreas König, Holger Rabe, Gerhard Streich (Hrsg.), Höxter - Geschichte einer westfälischen Stadt. Band 1: Höxter und Corvey im Früh- und Hochmittelalter. Hannover 2003.
Stephan, Hans-Georg 1979: Die Wildburg, eine Höhenburg aus der Mitte des 12. Jahrhunderts an der Oberweser. Denkmalpflege und Forschung in Westfalen 2, Bonn 1979, S. 123-130.
Thema 20: Das Corveyer Lebensbuch und die Vitusbruderschaft
Das Corveyer Lebensbuch und die Vitusbruderschaft
In einer schriftarmen Zeit legte es die Grundlage zum Gedächtnis für die lebenden und verstorbenen Brüder und hob sie heraus aus dem ewigen Vergessen und der Geschichtslosigkeit. Wahrscheinlich entstand das Corveyer Lebensbuch zwischen 1158 und 1160 in dem berühmten Skriptorium des Klosters Helmarshausen. Die Verfasser sind unbekannt. Einzuordnen ist es in eine Reihe bekannter Helmarshäuser Werke, wie etwa dem zwischen 1173 und 1180 verfertigten Evangeliar Heinrichs des Löwen. Geplant und in Auftrag gegeben wurde das Lebensbuch wohl schon unter dem Corveyer Abt Wibald (1146-58; auch Abt von Stablo). Heute wird es im Staatsarchiv in Münster aufbewahrt.
Widmungsblatt des Verbrüderungsbuchs© Stadt HöxterEnthalten ist eine Äbte- und Mönchsliste und das sogenannte Verbrüderungsbuch. Beiden Teilen wurden Nachrichten über die Klostergründung im Wesertal sowie über die Besitzschenkungen durch den König und andere bedeutende Stifter hinzugefügt. Die Mönchsliste ist als Eintrittsverzeichnis des Klosters angelegt worden, untergliedert nach den einzelnen Äbten mit Regierungszeit und Todestag und reicht von der Klostergründung bis zu Abt Heinrich II. (1146). In dem Verbrüderungsbuch sind diejenigen geistlichen Gemeinschaften aufgezeichnet, die in der Mitte des 12. Jahrhunderts mit dem Corveyer Konvent verbrüdert waren. Auf dem einleitenden Widmungsbild (Abb. 1) ist das himmlische Jerusalem als Vorbild für das ummauerte Klosterareal, die Civitas Corvey, dargestellt. Im unteren Bildbereich kniet Propst Adelbert, der das Werk dem hl. Stephanus übergibt. Der Klosterheilige wird flankiert von Abt Warin, der die Vitusreliquien 836 nach Corvey holte, und von Abt Hilduin von St. Denis, der die Reliquien spendete.
Mönchsliste aus Corvey unter dem heiligen Vitus© Stadt HöxterUnter den 76 mit Corvey verbrüderten Männer- und Frauengemeinschaften befinden sich Konvente von Benediktinern, Prämonstratensern, Kanonikern und Kanonissen zwischen Niederrhein und Elbe sowie die Abteien Stablo (Belgien), Corbie (Nordfrankreich) und, nicht ganz eindeutig zu lesen, das süddeutsche Reformkloster Hirsau. Das Konzept des Corveyer Lebensbuchs greift auf eine im 12. Jahrhundert überholte karolingerzeitliche Tradition zurück. Das Lebensbuch ist eine Reminiszenz an die Blütezeit Corveys. Es sollte das Selbstbewusstsein und den Selbstbehauptungswillen der Mönchsgemeinschaft stärken, doch deren Niedergang ließ sich angesichts der Entwicklung der regionalen Machtverhältnisse nicht aufhalten. Nur wenige Namenslisten sind vollständig, wurden häufig nicht regelmäßig ergänzt und viele Arkaden blieben ganz leer. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit wurden Leerräume mit Dokumenten der Kirchen- und Güterverwaltung aufgefüllt.
Angefügt an die zuvor genannte Äbte- und Mönchsliste wurde eine Liste von „Freunden des Klosters", Klerikern und Laien männlichen und weiblichen Geschlechts. Dabei handelt es sich möglicherweise um Angehörige der Corveyer Vitusbruderschaft, wie sie auch in dem schlicht gestalteten Vitusbuch (Liber Sancti Viti, Staatsarchiv Münster) überliefert sind. Die Äbte Markward (1081-1107), Erkenbert (1107-28) und Folkmar (1128-38) gründeten Vitus- und Stephanusbruderschaften in Goslar, Osnabrück, Wulfelade bei Wunstorf und in Corvey. Sie gehören zu den ältesten bezeugten Vereinigungen dieser Art. Die Verbrüderten suchten geistige und geistliche Orientierung bei der Mönchsgemeinschaft, insbesondere Unterstützung beim Gebetsgedenken. Neben der Ausrichtung des Vitusfestes am 15. Juni widmete sich die Vitusbruderschaft der materiellen Ausstattung der Begräbnisfeier ihrer Angehörigen, der Armenfürsorge sowie der Ausschmückung und Unterhaltung der Corveyer Kirche und Klosteranlage. Die Namenseinträge im Vitusbuch reichen bis ins 13. Jahrhundert.
Michael Koch, Stadtarchiv
Literatur:
Karl Schmid, Joachim Wollasch (Hrsg.), Der Liber Vitae der Abtei Corvey. Teil 1: Einleitung, Register, Faksimile. Teil 2: Studien zur Corveyer Gedenküberlieferung und zur Erschließung des Liber Vitae. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Bd. 40 = Westfälische Gedenkbücher und Nekrologien, Bd. 2) Wiesbaden 1983, 1989.
Thema 21: Die Stadt Corvey versinkt in Schutt und Asche
Die Stadt Corvey versinkt in Schutt und Asche
In der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 1265 erhellte ein Flammenmeer den Himmel über der Stadt Corvey. Was war geschehen? Bewaffnete Verbände des Paderborner Bischofs Simon zur Lippe, von ungenannten Corveyer Ministerialen und der höxterschen Bürgerschaft hatten Stadt und Kloster Corvey überfallen, geplündert und anschließend die Stadt in Brand gesteckt. Letztere hatten wahrscheinlich das größte Interesse an der Vernichtung der Konkurrenzstadt. Damit war das Ende der aufstrebenden Stadt besiegelt. Über die politischen und wirtschaftlichen Hintergründe der Zerstörung wird in der nächsten Folge berichtet.Blick vom Sollingrand auf die brennende Stadt Corvey. Rekonstruktion des Archäologen Dr. Thomas Küntzel (Göttingen).© Stadt HöxterDie untergegangene Stadt Corvey gehört zu den etwa 4000 Ortswüstungen in Westfalen, unter denen sich nur sechs mittelalterliche Städte befinden. Die nächst gelegene Stadtwüstung, eine Gründung der Grafen v. Schwalenberg, befindet sich auf dem Stoppelberg bei Steinheim. Die Stadt Corvey wird erstmals 1190 als nova villa in Corbeia (neue Stadt in Corvey) überliefert. Gründer und Stadtherr waren die Corveyer Äbte. Die Motive für die Stadtgründung waren sicherlich vielfältiger Natur - unter anderem der schwindende Einfluss des Klosters auf die nach Unabhängigkeit strebende höxtersche Bürgerschaft. Das aus frühmittelalterlichen Laienansiedlungen vor den Toren der Abtei erwachsene Stadtareal umfasste - unter Einschluss des Klosterbezirkes im Nordosten und des Stiftes Niggenkerken im Südwesten - eine Fläche von 55 Hektar und war damit 13 Hektar größer als Höxter. Die nach 1150 erbaute Befestigung bestand aus einem 10-12 m breiten, wahrscheinlich palisadenbewehrten Wall, dem ein ebenso breiter Graben vorgelagert war. Vermutlich existierten drei Stadttore: im Westen nach Höxter, im Norden nach Holzminden und im Osten über die Weserbrücke nach Einbeck. Die Stadtbefestigungen von Corvey und Höxter waren nur 800 m voneinander entfernt.
Das Siedlungsgeschehen konzentrierte sich im Süden der Stadt, im Bereich des Corveyer Weserbogens, und vor der Westseite des Klosters. Große Bereiche im Norden waren anscheinend nicht bebaut und wurden vermutlich als Gartenland genutzt. Die Hauptverkehrsachse bildete ein Abzweig des Westfälischen Hellweges, der auf die vor 1255 erbaute Weserbrücke zuführte und als Bruggestrate überliefert ist. Sie war auf über 4 m Breite aufwendig mit Bruchsteinen gepflastert und wies mit begleitenden Straßengräben und Fahrspuren eine Trassenbreite von 12-15 m auf. Südlich der Hauptstraße lag im Bereich des heutigen Sägewerkgeländes die um 1150 erbaute Marktkirche: eine große dreischiffige, wahrscheinlich dem hl. Petrus geweihte Basilika mit Friedhof. Sie bildete zusammen mit dem angrenzenden Markt das Zentrum der Stadt. Die romanische Stadtkirche überstand die Zerstörung des Ortes und wurde erst 1510 aufgehoben.
Über die Anzahl der bebauten Grundstücke können beim derzeitigen Forschungsstand, der sich weitgehend auf Geländebegehungen, Probegrabungen, Luftbildauswertungen und geophysikalische Prospektionsverfahren beschränkt, nur Vermutungen angestellt werden. Der versierte Corvey-Forscher Prof. Dr. Hans-Georg Stephan rechnet mit 200-400 Wohnhäusern, die mindestens 1500 und maximal 2000-2500 Einwohner beherbergten. Demzufolge ist Corvey in die Reihe der mittelalterlichen Mittelstädte einzugruppieren. Die Bürgerschaft besaß 1255 eine Ratsverfassung und zumindest unter Abt Hermann v. Holte (1223-54) wurden in der Stadt Corveyer Münzen geprägt.
Die untergegangene Stadt Corvey ist aufgrund ihrer außerordentlichen landesgeschichtlichen Bedeutung als Bodendenkmal eingetragen und wird im Welterbeantrag für das karolingerzeitliche Westwerk und den Klosterbezirk (Kernzone) als die schützende Pufferzone definiert. Für die Genese von mittelalterlichen Städten bildet Corvey ein nahezu einzigartiges Forschungsobjekt.
Andreas König, Stadtarchäologe
Literatur:
Hans-Georg Stephan, Studien zur Siedlungsentwicklung und -struktur von Stadt und Reichskloster Corvey (800-1670). Eine Gesamtdarstellung auf der Grundlage archäologischer und historischer Quellen. Neumünster 2000.
Thema 22: Technische Meisterleistung und Schicksalsbote: Die mittelalterliche Brücke der Stadt Corvey
Technische Meisterleistung und Schicksalsbote: Die mittelalterliche Brücke der Stadt Corvey
Die Erbauung und Unterhaltung einer Brücke bedeutete im Mittelalter eine gewaltige technische Herausforderung. Zur Durchführung bediente sich ein Herrscher der Finanzkraft von Kaufleuten oder einer Stadtgemeinde, denen er zum Ausgleich wirtschaftliche und politische Vorteile versprechen konnte. Eine Brücke über den Weserstrom zog aus weiter Entfernung den Handelsverkehr an und besaß zugleich aus militärischer Sicht eine große strategische Bedeutung. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, zumindest aber zwischen 1249 und 1265, existierten in Corvey und Höxter zwei Brücken dicht nebeneinander. Beiden kommt eine Schlüsselfunktion für das Verständnis der hoch- und spätmittelalterlichen Entwicklung der beiden Städte zu. Die nächsten festen Brücken querten die Weser bzw. Werra flussabwärts in Bodenwerder und flussaufwärts in Hann. Münden.Werrabrücke von 1223 bei Creuzburg in Thüringen, älteste erhaltene Steinbrücke im Verlauf von Weser und Werra. Foto: M. Koch (2006).© Stadt Höxter
In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstand die Stadt Corvey vor den Toren des Klosters. Sie findet Parallelen in der Gründung einer Neustadt, etwa neben den Altstädten von Göttingen oder Warburg. Hierbei handelt es sich um Gegengründungen des Stadtherrn als Antwort auf eine sich emanzipierende Stadtgemeinde. Mutmaßlich um 1225/30 oder schon etwas früher wurde eine hölzerne Brücke im Weserbogen errichtet, die etwa 120 m Länge aufwies und von einem Brückenmeister verwaltet wurde. Offensichtlich sollte sie den Handelsverkehr am Marktort Höxter vorbei nach Corvey lenken. Von einer direkten Reaktion der Stadt Höxter erfahren wir aber zunächst nichts. 1249 stellte Abt Hermann von Holte (1223-55) in Anwesenheit seiner bedeutendsten Burgmannen eine Urkunde für die Stadt Höxter aus, da die Bürger ihm beträchtliche Dienste geleistet und durch umfangreiche Auslagen aus der Bedrängnis geholfen hatten. Dafür wurde den Bürgern der Wiederaufbau ihrer Brücke von 1115 erlaubt. Damit war vorläufig für Entspannung gesorgt, doch erscheinen die Rollen klar verteilt: auf der einen Seite die reiche, immer selbstbewusster agierende Stadtgemeinde von Höxter, auf der anderen die hochverschuldete Abtei, die nicht umhin kann, die wirtschaftliche Grundlage ihrer Stadt Corvey zu schwächen.
Steinerne Brücke über die Donau in Regensburg, Mitte 12. Jahrhundert, als Vorbild zahlreicher romanischer Brückenbauten. Foto: Hytrion aus der deutschsprachigen Wikipedia (2004).© Stadt HöxterAus dem Jahr 1255 ist eine weitere Brückenurkunde überliefert, die Abt und Konvent von Corvey an die Stadtgemeinde von Corvey richteten. Sie betrifft die Weserbrücke im Corveyer Weserbogen und gewährt Einsicht in den kritischen Entwicklungsstand der Stadt Corvey. Wir erfahren vom Bestehen eines Rates als Gremium der Selbstverwaltung, dem aber bei weitem nicht das Gewicht des Rates von Höxter zukam. Unter Hinweis auf die Notlage der Corveyer Bürger wurde ein fester Anteil am Brückenzoll, der an zwei Klosterämter abgeliefert werden musste, erlassen. Dafür wurden die Corveyer aufgefordert, das Brückenwerk fester und beständiger zu machen, was so gedeutet werden kann, dass es in Stein aufgeführt werden sollte.
In politischer Hinsicht wurde die angespannte Situation auf die Spitze getrieben, als der Abt im Frühling 1265 einen Wechsel in der Besetzung der höxterschen Stadtvogtei vollzog: Der Graf von Pyrmont musste den mächtigeren Herzögen Albrecht und Johann von Braunschweig weichen. Mit ihrer Hilfe (und der Brunsburg im Hintergrund) hoffte der Abt den Bürgern von Höxter seinen Willen aufzwingen zu können. Damit war offenbar das Fass zum Überlaufen gebracht worden. Der Bischof von Paderborn als regionaler Gegenspieler der Herzöge nahm die Gelegenheit wahr, seinen eigenen Einfluss geltend zu machen. An seiner Seite gingen die Höxteraner zur offenen Rebellion über. Die Stadt Corvey wurde geplündert und zerstört, wobei auch die Brücke der Wut der Höxteraner zum Opfer fiel. Diese entführten die Brückenurkunde nach Höxter, wo sie bis auf den heutigen Tag im Stadtarchiv aufbewahrt wird.
Michael Koch, Stadtarchiv
Literatur:
Andreas König, Holger Rabe, Gerhard Streich (Hrsg.), Höxter - Geschichte einer westfälischen Stadt. Bd. 1: Höxter und Corvey im Früh- und Hochmittelalter. Hannover 2003.
Thema 23: Burgen sicherten das Corveyer Land
Burgen sicherten das Corveyer Land
Gegen Ende des 13. und in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts führte die Abtei Corvey ein Burgenbauprogramm durch, das auf das engere Stiftsgebiet an der oberen Weser zwischen Beverungen und Holzminden beschränkt war. Hierfür mussten Absprachen mit dem Erzstift Köln, dem Hochstift Paderborn, dem Herzogtum Braunschweig sowie mit der Stadt Höxter getroffen werden. Während die 1294 zerstörte Brunsburg von selbstherrlichen Burgmannen besetzt und in ihrem Umfang von zwei Hektar Hauptburg und Vorburgarealen nicht mehr zu unterhalten war, bedeckten die neuen Festungen nur ein Areal von etwa einem halben Hektar. Sie lagen nicht mehr in unnahbarer Höhe, sondern an den Hauptverkehrswegen über das Corveyer Land verteilt. Auf ihnen dienten corveysche Vögte, die nicht der alten Funktionselite entstammten. Sie saßen in ihrem Amtsbezirk als Stellvertreter des Landesherrn zu Gericht, organisierten die Verteidigung und verwalteten die Abgaben und Dienste der Corveyer Landsassen.
Begonnen wurde im Zentrum der Herrschaft: Unter Abt Heinrich von Homburg (1277-1308) wurde die Werneborch (Weserburg) innerhalb der Klostermauern in der äußersten Nordostecke errichtet. Ein spätmittelalterliches Äbteverzeichnis nennt das Jahr 1288. Die dreieckige Kernburg wurde durch eine Mauer mit vorgelagertem Graben vom Klosterbereich abgetrennt. Im Innenraum befand sich mutmaßlich ein mächtiges Turmhaus. Sie diente vor allem als Zufluchtsort für Abt und Konvent. Nachdem hier zu Beginn des 14. Jahrhunderts ein kurkölnischer Amtmann amtiert hatte, wurde sie in den folgenden Jahrzehnten mehrfach das Ziel von Angriffen. Unterhaltungsmaßnahmen sind noch aus dem frühen 16. Jahrhundert überliefert, bald darauf wurde sie jedoch aufgegeben.
Burg Blankenau wurde von der Abtei und dem Paderborner Bischof kurz vor 1315, als sich beide über die Organisation der Burghut einigten, erbaut. Wichtige Aufgaben waren der Schutz des südlichen Corveyer Landes und des Klosteramtes Beverungen gegen die Landgrafen von Hessen und die Herzöge von Braunschweig. Zudem bildete sie ein Gegengewicht zu den Herren von Amelunxen, die ebenfalls im 14. Jahrhundert einen Wehrbau in Wehrden errichteten. Die alte Kernburg stellt sich heute als ein unbebautes, von einem Graben abgetrenntes Plateau dar. 1329 führte die Erweiterung um zwei Vorburgen auf dem Gelände des heutigen Haupthauses von 1606 und des Wirtschaftshofes zu einer erneuten Beurkundung der Besitzverhältnisse und des Burgfriedens. Inzwischen war ein Turm am Weserufer unterhalb der Burg entstanden, der die Weserschifffahrt kontrollierte. Burg Blankenau diente den Corveyer Äbten, die den Paderborner Anteil ablösen konnten, seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts als Hauptresidenz.
Tonenburg aus der Luft um 1960 (Stadtarchiv Höxter)© Stadt HöxterAbt Rupert von Tomburg (1308-39/40) erbaute die Tonenburg bei Albaxen, die 1331 zum ersten Mal erwähnt wird. Sein niederrheinischer Übername diente als Vorbild bei der Namengebung. Die Tonenburg sollte als Abtsresidenz und potentielle Zwingburg gegenüber der Stadt Höxter die Brunsburg ersetzen und den Grenzraum gegen die Edelherren zur Lippe und die Grafen von Everstein schützen. Sie gelangte jedoch früh in die Verfügungsgewalt fremder Dynasten und der Stadt Höxter. Den mittelalterlichen Kern bildet das erhaltene fünfgeschossige, 18 m hohe Turmhaus (Abb. 1).
In Beverungen begann um 1330 der Paderborner Turmhaus der Burg Beverungen nach der Restaurierung von 2009 (Foto: M. Koch)© Stadt HöxterBischof Bernhard zur Lippe (1321-41) mit der Erbauung einer Burg auf Corveyer Grund und Boden. An der Burg wurden neben Corvey auch die Herren von Brakel beteiligt. Von ihren drei Türmen ist heute noch das vor 1348 vom Paderborner Burgmann Heinrich Spiegel errichtete, 27 m hohe Turmhaus vorhanden (Abb. 2). Die gleichzeitig geplante Stadtgründung wurde erst 1417 vollzogen. Für das Hochstift Paderborn war es wichtig, über einen Weserhafen zu verfügen. Als letzte Corveyer Landesburg entstand zwischen 1346 und 1348 die Burg Fürstenau. Die Burganlage befand sich im Bereich des heutigen Gutshofes und besaß ein Turmhaus und eine Vorburg. Sie ging mutmaßlich in den Fehden des ausgehenden 14. Jahrhunderts zugrunde. Neben dem Landesherrn unterhielt auch der Stiftsadel seit dem ausgehenden Mittelalter Burgen in Wehrden, Amelunxen, Bruchhausen, Maygadessen und Lütmarsen.
Michael Koch, Stadtarchiv
Ausführlicher wird auf das Thema eingegangen in: Michael Koch, Andreas König, Gerhard Streich (Hrsg.), Höxter - Geschichte einer westfälischen Stadt. Bd. 2: Höxter und Corvey im Spätmittelalter (in Vorbereitung).
Thema 24: Corveyer Schutzherren I
Corvey zwischen Raubtieren (Teil 1)
Denare-Simons-zur-Lippe© Stadt HöxterDie Reichsabtei Corvey konnte sich seit ihrer Gründungszeit auf Schutzprivilegien von Kaisern und Päpsten stützen, deren Wirksamkeit aber zumeist von Stellvertretern und Gesandten abhängig war. Zu weltlichen Richtern und Schutzvögten bestimmte der König einflussreiche Magnaten, die den Titel eines Corveyer Edelvogts führten und stellvertretend Vizevögte einsetzten. Seit dem 12. Jahrhundert reichte der Arm des Königs jedoch kaum noch bis nach Norddeutschland. Die Schutzvögte begannen ihren Einfluss auszunutzen und eigenmächtig über die Güter der Reichsabtei zu verfügen. In der Auseinandersetzung mit den Vizevögten um 1150 litten Corvey und Höxter unter verheerenden Überfällen der Grafen von Schwalenberg. 1265 übernahmen die Welfenherzöge wichtige Vogteirechte, u. a. über die Stadt Höxter, von den Schwalenbergern. Angesichts ihres Reichtums und ihrer gleichzeitigen Wehrlosigkeit benötigte die Reichsabtei weniger eigenmächtige Beschützer.
Die Entwicklung von weit verstreuten Herrschaftsrechten im Mittelalter hin zum modernen Flächenstaat vollzog sich unter den Vorzeichen von Konkurrenzkampf und Kriegen unter Fürsten und adligen Dynasten, an denen sich auch der Ritteradel und die Städte nach Kräften beteiligten. Angesichts der damit zusammenhängenden Zerstörungen war den Menschen im Mittelalter der Gedanke des Schutzes, den ein Stärkerer einem Schwächeren bieten musste, sehr vertraut: Unfreie Männer und Frauen standen im Schutz der Familie und des Hauses ihres Grundherren und freie Männer und Frauen konnten sich in den Schutz etwa eines Grafen oder einer Kirche begeben. Zugleich waren sie aber in persönlicher Abhängigkeit und mussten Dienste leisten. Schon die Gesetze Karls des Großen um 800 verlangten von jedem Amts- und Herrschaftsträger, dass er die Schwachen, vor allem Kirchen, Witwen und Waisen beschützen sollte. Seit dem hohen Mittelalter entwickelte sich in den Nachfolgereichen des karolingischen Imperiums die Idee des Landfriedens, eines Zusammenschlusses der bestimmenden Herrschaftsträger in einem Raum, um das Kriegs- und Fehdewesen durch ihr eigenes Gewaltmonopol einzudämmen. Noch in unserer heutigen Sprache lassen sich Überreste des mittelalterlichen Schutzgedankens vorfinden: Das Wort „Vormund", lateinisch „Tutor", geht auf das altdeutsche „mund" in der Bedeutung von „Schutz, Schirm" zurück. Damit zusammenhängend hat sich bis heute die „Schirmherrschaft" überliefert.
Für eine wohlhabende Reichsabtei wie Corvey bot sich die Möglichkeit, eigenständig einen Schutz- und Schirmherrn zu wählen, um ihre Unabhängigkeit gegenüber Edel- und Vizevögten sowie im Konzert der entstehenden Landesherrschaften im Oberweserraum zu wahren.[1] 1198 schloss Abt Widukind (1189-1203) mit dem Kölner Erzbischof Adolf von Altena, zugleich Herzog in Westfalen, ein Bündnis auf Gegenseitigkeit, wodurch die Reichsabtei Schutz für ihre Besitzungen in Westfalen erhielt. Allerdings musste Corvey im Gegenzug wichtige territoriale Zugeständnisse machen, z. B. 1230 die Kölner Mitbeteiligung an Marsberg und Burg Lichtenfels im Sauerland zulassen. Dieses Bündnis wurde immer wieder verlängert und bestimmte das ganze 13. Jahrhundert die Corveyer Politik. Nach dem Untergang des staufischen Königtums veränderten sich die Kräfteverhältnisse noch mehr zugunsten der regionalen Landesherren. Zusätzlich zum Erzbischof-Herzog hielt es die Reichsabtei unter Abt Thimmo (1255-73) für notwendig, den kriegerischen Paderborner Bischof Simon aus dem Haus der Edelherren zur Lippe, den Zerstörer der Stadt Corvey 1265, zum „Tutor" und „Administrator" zu wählen. Sichtbares Zeichen seiner Schutzherrschaft war seine Münzprägung in Corveyer Münzstätten (Abb. 1). Doch auch die Paderborner Machtverhältnisse waren nicht gefestigt und so wechselte die Tutorenschaft 1263 und 1272 vorübergehend an den Paderborner Dompropst Heinrich aus dem Waldecker Grafenhaus, einer Seitenlinie der Grafen von Schwalenberg und Konkurrenten der Lipper. Letzter von Corvey erwählter Kölner Tutor war Erzbischof Wikbold von Holte (1297-1304).
Michael Koch, Stadtarchivar
Abb. 1
Silberpfennige (Denare) mit dem Bildnis von Bischof Simon zur Lippe, geprägt in Volkmarsen (1) und Corvey (2).
[1] Siehe die ausführliche Darstellung von Gerhard Streich im zweiten Band zur Geschichte der Stadt Höxter (in Vorbereitung).
Thema 25: Corveyer Schutzherren II
Corveyer Schutzherren II
Nachdem die Erzbischöfe von Köln in politischen oder militärischen Schwächephasen wiederholt nicht hatten wirkungsvoll helfen können, wählten Abt und Konvent von Corvey 1306 den Paderborner Bischof Otto von Rietberg (1277-1307), der sein Hochstift erfolgreich ausgebaut und befestigt und die Brunsburg zerstört hatte, zum neuen Tutoren. Erstmalig war auch der Rat der Stadt Höxter, der sich mittlerweile als feste politische Größe etabliert hatte, an der Wahl beteiligt. Nach Ottos baldigem Tod trat eine kurze Periode ohne gewählte Schutzherren ein, in der eine neue Phase des Corveyer Burgenbaus einsetzte, die bis zur Mitte des Jahrhunderts anhielt und der Festigung der schmaler werdenden Landesherrschaft diente. In dieser Zeit wurden die Strukturen und Grenzen des kleinen Stiftsterritoriums an der Oberweser festgelegt, in denen es bis in die Neuzeit überdauerte.
Landgraf Philipp I. von Hessen (1504-67) (aus: Hessen und Thüringen. Von den Anfängen bis zur Reformation. Marburg 1992, Abb. 540a).© Stadt HöxterDann kamen die kritischen Jahre, in denen Höxter und Corvey trotz aller gegensätzlicher Interessen zu einer „ewigen Partnerschaft" geradezu verschweißt wurden: 1331 befand sich Corvey im Krieg mit Herzog Otto von Braunschweig und der Stadt Höxter. In größter Not musste die Abtei ein Bündnis mit Landgraf Heinrich II. von Hessen eingehen, dem die halbe Stadt Höxter, die Öffnung der Corveyer Burgen und eine gemeinsame (nicht realisierte) Zwingburg bei Höxter versprochen wurde. Für den Landgrafen als Bündnispartner sprach vor allem seine Konkurrenz zu den Welfenherzögen und seine räumliche Distanz. Dennoch unterlag Corvey und musste sich im sogenannten Sühnebrief vom 17. März 1332 mit der Stadt aussöhnen. Der Sühnebrief stellte das Verhältnis zwischen Stadt und Stift auf eine neue, bis zur Reformationszeit reichende Verfassungsgrundlage. Es wurde bestimmt, dass zukünftig kein neues Bündnis eingegangen und kein Vormund ohne Zustimmung von Rat und Bürgerschaft gewählt werden durfte. Im Gegenzug band sich die Stadt unwiderruflich an den Corveyer Landesherrn. Infolge eines separaten Vertrages wurden 1332 erstmals welfische Herzöge auf Lebenszeit zu Vormündern der Reichsabtei.
Mittlerweile hatte sich das Kloster Corvey immer weiter von den Gewohnheiten der Benediktiner abgewandt und dem Erscheinungsbild eines weltlichen Chorherrenstifts angenähert. Die Mönche ließen sich als Herren titulieren und bildeten das Stiftskapitel, das sich wie ein Domkapitel als eigentlicher Garant und Repräsentant des Stifts bei Vakanz des Abtsstuhls ansah. 1365 wählten Stift und Stadt wieder einen Paderborner Bischof, Heinrich Spiegel (1361-80), der 1359-64 die Corveyer Abtswürde innehatte, zum Vormund. Mit seinem Tod endete die Phase der Paderborner Vorherrschaft über das Stift Corvey. 1382/85 traten das Stift und die Stadt dem von Kaiser Karl IV. für Westfalen initiierten und unter seinem Sohn König Wenzel auf die benachbarten Territorien ausgedehnten Landfriedensbund bei. Im Konvent herrschte Uneinigkeit zwischen den Parteien und in der Region bestimmten Ritterbünde und ihre Fehden den Alltag.
Die Fehde gegen die Grafen von Spiegelberg, aus deren Haus auch der amtierende Abt Moritz (1417-35) stammte, erbrachte 1434 den letzten Durchbruch für die Landgrafen. Ludwig I. der Friedsame (1413-58) erlangte in einer Bündnisabsprache das Einverständnis der Welfenherzöge von Wolfenbüttel, Calenberg und Celle, besetzte dann Corvey und Höxter und diktierte am 26. Mai 1434 seinen Unterwerfungsvertrag. Stiftskapitel und Stadt wählten den Landgrafen zu ihrem Schutz- und Schirmherren und öffneten ihm Land und sämtliche Festungen. Der Schutzbrief sollte zukünftig von jedem seiner Nachfolger und jedem neuen Abt vor seiner Bestätigung neu beantragt werden. Die hegemoniale Stellung Hessens im Weserraum hielt bis in die Regierungszeit Landgraf Philipps I. des Großmütigen (1509-67) (Abb. 2) an. Sein erheblicher Einfluss zeigte sich bei der Einführung der Reformation in Höxter 1533. In den folgenden Jahrhunderten besaß Corvey allerdings zwei gleich mächtige Schutzherren: Ein schon im April 1434 geschlossenes Schutzabkommen auf Gegenseitigkeit diente seit 1450 als Grundlage eines regelmäßig erneuerten Bündnisses zwischen Corvey und den Welfenherzögen. Mit dem Hauptschluss der Reichsdeputation in Regensburg und dem Ende des geistlichen Fürstentums Corvey 1803 endeten auch die alten Schirmherrschaften.
Michael Koch, Stadtarchivar
Thema 26: Der Chirurg
Lebte der berühmte „Chirurg von der Weser" auch in Corvey?
1988 führte das Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Göttingen unter Leitung von Prof. Dr. Hans-Georg Stephan Ausgrabungen in der untergegangenen Stadt Corvey im Weserbogen durch. Bei der Untersuchung konnte unter anderem die romanische Marktkirche im Bereich des heutigen Sägewerkgeländes lokalisiert werden. Unmittelbar westlich des Kirchhofes wurde der Keller eines steinernen Hinterhauses angeschnitten, das bei der Zerstörung der Stadt im Jahre Corvey 1265 niedergebrannt war. In dem mit Brandschutt verfüllten Keller fanden sich neben zeittypischem Hausrat, der nicht mehr vor den Flammen gerettet werden konnte, auch vier besondere Metallobjekte: zwei Nadeln aus Kupferlegierungen und zwei auffällige Eisengeräte. Die medizinhistorische Begutachtung dieser Funde ergab, dass es sich hierbei eindeutig um chirurgische Instrumente handelt. Die Nadeln dienten zum Nähen von Wunden. Mit den nur bruchstückhaft erhaltenen Eisenobjekten sind ein Schabeisen, das in der mittelalterlichen Medizin beispielsweise bei Schädeloperationen zum Ablösen der Kopfhaut verwendet wurde, und ein verzinntes Brenneisen mit Buntmetallstiften zum Behandeln von Wunden und Geschwülsten zu belegen. Diese nicht alltäglichen Funde sprechen wahrscheinlich dafür, dass den Göttinger Archäologen die Entdeckung der Wohnstätte eines mittelalterlichen Wundarztes gelang.
Schabeisen (1) und Brenneisen (2) aus dem Haus des Wundarztes in der Stadtwüstung Corvey.© Stadt HöxterDer Ausgräber Hans-Georg Stephan glaubt, hiermit höchstwahrscheinlich die Hinterlassenschaften und die letzte Wirkungsstätte eines der bedeutendsten Chirurgen des Hochmittelalters gefunden zu haben. Der als „Chirurg von der Weser" überlieferte Mediziner ist neben Ortolf von Baierland, der in Diensten des Würzburger Domkapitels stand, der berühmteste deutsche Wundarzt des 13. Jahrhunderts. Beide hatten studiert und bildeten somit die Ausnahme in ihrem Berufsstand, der sich zu dieser Zeit hauptsächlich aus Personen zusammensetzte, die eine handwerkliche Wundarztlehre abgeschlossen hatten.
Darstellung der Behandlung einer Kopfverletzung in einer französischen Handschrift aus dem frühen 14. Jahrhundert.© Stadt HöxterAus dem Leben des namentlich nicht genannten Chirurgen sind einige Stationen bekannt. Sein Geburtsort und sein Geburtsdatum sind nicht überliefert. Um 1220/30 studierte er an der renommierten Universität von Bologna in Italien und anschließend in dem ebenso bekannten Montpellier in Südfrankreich. In der Provence begann er auch medizinwissenschaftliche Abhandlungen zu verfassen, die eine weite Verbreitung fanden und seinen Ruhm begründeten. Seine nächste Station bildete die Metropole Paris, wo er als Arzt praktizierte. Danach übersiedelte er in das Weserbergland und setzte hier seine Berufstätigkeit fort. Was den gebildeten und weitgereisten Spezialisten für Augenoperationen hierzu veranlasst hatte, muss spekulativ bleiben. Möglicherweise trieb ihn das Heimweh. In Corvey operierte er erfolgreich den ihm verbundenen Magister Henricus an beiden Augen, der Kanoniker des Stiftes Niggenkerken war. Danach soll er derartige chirurgische Eingriffe noch an mehreren anderen Personen durchgeführt haben. Hervorzuheben ist ebenfalls seine Bekanntschaft mit dem 1252 verstorbenen Herzog Otto I. von Braunschweig und Lüneburg, dem er eine Veröffentlichung widmete. Über die letzten Lebensjahre des vermutlich zwischen 1200 und 1215 geborenen „Chirurgen von der Weser" liegen keine historischen Nachrichten vor.
Andreas König, Stadtarchäologe
Literatur:
Hans-Georg Stephan, Der Chirurg von der Weser (ca. 1200-1265) - ein Glücksfall der Archäologie und Medizingeschichte. Sudhoffs Archiv, Bd. 77, Heft 2, Stuttgart 1993, 174-191.
Thema 27: Bursfelder Kongragation
Bursfelder Kongragation
Immer wieder gab es im Laufe der Geschichte Reformbewegungen, die das monastische Leben neu zu organisieren versuchten. Im 15. Jahrhundert führten viele Klöster ein Eigenleben, das nur noch bedingt mit den von den Klostergründern aufgestellten Regeln übereinstimmte. Eine erfolgreiche Reformbewegung für den Benediktinerorden führt ihren Namen auf das an der Oberweser gelegene Kloster Bursfelde zurück. Dort wurde auf Betreiben des Herzogs von Braunschweig 1433 Johannes Dederoth (†1439) zum Abt gewählt. Er hatte auf einer Italienreise Reformbewegungen kennengelernt und sich zum Vorbild genommen. In den Klöstern Bursfelde und Clus bei Gandersheim am Harz, dem er schon seit 1430 vorstand, gelang es ihm, eine neue monastische Disziplin zu verankern und das Leben der Mönche wieder auf die Grundlage der Benediktsregel zu stellen. Sein Nachfolger Johannes Hagen (1439-69) wird als der eigentliche Gründer der Bursfelder Kongregation bezeichnet.
Kloster Bursfelde; Copyright-Inhaber: Gerhard Jost© Copyright-Inhaber: Gerhard JostMit Unterstützung von Johannes Rode, Abt von St. Matthias in Trier, wuchs eine Bewegung, der sich in den folgenden Jahrzehnten insgesamt 112 Klöster anschlossen. 1446 erhielt Bursfelde durch den Papstlegaten Kardinal Ludwig d'Allemand auch die offizielle Bestätigung, Jahreskapitel abzuhalten und eine Vereinigung (Kongregation) der Benediktinerklöster zu bilden. Der Zusammenschluss unter der Leitung des Bursfelder Abtes umfasste schließlich Klöster im gesamten Nordwestdeutschland, Holland, Belgien, Luxemburg, dem Elsass sowie vereinzelte süddeutsche Abteien. Das Generalkapitel trat alle zwei bis drei Jahre zusammen und ließ regelmäßig Visitationen der angeschlossenen Klöster vornehmen. Alle Äbte der angeschlossenen Klöster hatten Präsenzpflicht. Die Bursfelder Kongregation legte besonderen Wert darauf, einheitliche Gottesdienste abzuhalten, die Zeremonien zu vereinheitlichen, die klösterliche Zucht wiederherzustellen, den Lebensunterhalt und die Kleidung der Mönche anzupassen und darauf hinzuwirken, dass Privatbesitz nicht mehr statthaft war.
Während sich viele Klöster durch Beschlüsse ihrer Konvente schnell freiwillig der Kongregation anschlossen, war es bei anderen ein langwieriger und schmerzhafter Prozess, der oft nur auf Druck von Bischöfen oder Klostervögten erfolgte. Auch das Kloster Corvey tat sich mit seinen Beitritt schwer. 1459 war ein erster Visitationsversuch des Generalkapitels der Kongregation in Corvey gescheitert. Am 31.12.1485 verfasste der Corveyer Konvent eine erste Absichtserklärung zum Beitritt. Doch es sollte noch fast zwanzig Jahre dauern, bis der Beitritt endgültig vollzogen werden konnte. Im Konvent gab es weiterhin Widerstand, da die adeligen Mönche nicht auf Ihre Pfründe verzichten wollten und sich auch mit der Befolgung der klösterlichen Disziplin schwer taten. Selbst Versuche des Corveyer Edelvogtes, Herzog Heinrich des Älteren von Braunschweig ab 1494 waren nicht von Erfolg gekrönt. 1501 wurden dann zwar zwischen der Kongregation und Corvey die Bedingungen des Beitritts vereinbart, die tatsächliche Aufnahme Corveys erfolgte aber erst unter dem neuen Abt Franz von Ketteler bei dessen Amtsantritt am 20.04.1505. Corvey wurde das 83. Kloster, das sich der Kongregation anschloss.
Mit der Beitrittserklärung kamen neue Reformmönche nach Corvey und bisher Widerstand leistende Mönche wurden abgefunden und aus dem Kloster entlassen. In Corvey war nicht zuletzt durch diese Maßnahmen ein deutlicher religiöser und schließlich auch wirtschaftlicher Aufwärtstrend unter Abt Franz von Ketteler zu beobachten. Nachdem die Generalkapitel in den ersten Jahren ausschließlich in Bursfelde getagt haben, sind sie später Zeit auch in anderen Klöstern und unter der Leitung anderer Äbte nachweisbar. In Corvey fanden zwischen 1548 und 1706 mehrfach Sitzungen des Generalkapitels statt. Die Bursfelder Kongregation gehörte zu den wichtigsten klösterlichen Reformbewegungen des Mittelalters. Mit Beginn der Reformationszeit und der Übernahme von Bursfelde durch Protestanten gingen der Kongregation über 50 Klöster verloren. 1780 fand das letzte Generalkapitel statt. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss vom 23.02.1803 und der dadurch bedingten Säkularisation von Klöstern endete die lange Geschichte der Bursfelder Kongregation.
Hubertus Grimm
Literatur:
Paul Mikat, Kloster Corvey und die Bursfelder Kongregation. In: Kunst und Kultur im Weserraum 800-1600. Bd. I. Münster 1966, S. 235-250.
Paulus Volk, Fünfhundert Jahre Bursfelder Kongregation. Münster 1950.
Thema 28: Die Tacitus Annalen
Die Tacitus Annalen
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden 44 Pergamentrollen aus der Bibliothek des Klosters Corvey entwendet und tauchten 1508 in Rom wieder auf. Dieses war zu jener Zeit kein ungewöhnlicher Vorgang, da Bücher und alte Schriftrollen regelmäßig aus der Corveyer Bibliothek für immer verschwanden.
Titelblatt des Zweitdrucks; Basileae: Froben, 1519. [14] Bl., 379 S.
Staatsbibliothek Bamberg: Inc.typ.M.I.22© Stadt HöxterDoch der Inhalt dieses Pergamentes war von besonderer Bedeutung: Es handelte sich um die ersten fünf Bücher sowie Teile des 6. Buches der sogenannten Annalen des Tacitus. Im Italien der Renaissancezeit war es üblich geworden Handschriften zu sammeln, die sich vor allen Dingen mit der Antike befassten. Besonders beliebt waren dabei Berichte aus der römischen Kaiserzeit. Der römische Schriftsteller Publius Cornelius Tacitus (55-120 n. Chr.) beschreibt in den ersten fünf Büchern seiner Annalen genau diese Zeit, nämlich vom Tode des Augustus (14 n. Chr.) bis zum Ende der Regierung des Tiberius (37 n. Chr.).
Tacitus legte den Grund für den Arminius-Mythos, indem er berichtet, wie einige Jahre nach der Schlacht am Teutoburger Wald die Römer an den Ort ihrer Niederlage zurückkehrten, um die Überreste ihrer Legionen einzusammeln.
Es konnte bis heute nicht genau geklärt werden, ob die aus Corvey entwendeten Pergamentrollen auch tatsächlich im dortigen Skriptorium erstellt wurden. Die Forschung geht allerdings davon aus, dass diese um 850 im benachbarten Kloster Fulda entstanden sind und dann in der Corveyer Bibliothek aufbewahrt wurden. Genauso im Dunkel der Geschichte ist ihr Weg nach Italien. Erstmals Erwähnung finden die aufgefundenen Tacitus-Annalen in einem Brief des Kardinals Franz Soderini vom 01.01.1509, wo er einem Freund die Auffindung des wertvollen Pergament-Codex mitteilt. Schließlich wurde die Handschrift Giovanni de Medici angeboten, der sie für die stolze Summe von 500 Golddukaten erwarb.Tacitus Annalen, Textseite 1 des in der Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz befindlichen Tacitus-Kodex© Stadt Höxter
1515 ließ Giovanni de Medici, nun Papst Leo X., die Annalen als gedrucktes Buch auflegen. Ein Exemplar schickte er an das Kloster Corvey, verbunden mit einem immerwährenden Ablass. Wie er in einem Brief zugab, hatte er gegenüber Corvey ein schlechtes Gewissen, denn offensichtlich war die Handschrift von dort gestohlen worden. Corvey nahm das gedruckte Exemplar an und forderte die Originalhandschrift nicht zurück, da gedruckte Bücher zu dieser Zeit ohnehin höher im Kurs standen. Das Corveyer Exemplar muss dann in den Wirren des 30-jährigen Krieges verlorengegangen sein. Die Original-Handschrift aber blieb im Eigentum der Familie de Medici und landete 1571 endgültig in der neugeschaffenen Biblioteca Laurenziana in Florenz, wo sie sich auch heute noch befindet.
1519 brachte der Verleger Beatus Rhenanus in Basel einen ersten Nachdruck der römischen Ausgabe heraus, 1523 einen zweiten und 1533 einen dritten.
Bis heute sind viele Fragen im Zusammenhang mit den Tacitus-Annalen ungeklärt. Tatsache ist jedoch, dass mit der Wiederauffindung des Corveyer Manuskriptes die Anfänge der Altertumskunde in Deutschland verbunden werden und die Tacitus-Annalen vor allen Dingen wertvolle Hinweise zur Varusschlacht liefern.
Hubertus Grimm
Literatur:
Clemens Honselmann: Der Diebstahl der Tacitus-Handschrift in Corvey und die Anfänge der Altertumsforschung in unserer Heimat in: Die Warte 32 (1971), Heft 5, Seite 65-68
Dr. Carl Auffenberg, Tacitus-Analen in der Ausstellung; in: Kunst und Kultur im Weserraum von 800-1600; in Corvey. In: Die Warte 27 (1966), Heft 6, S. 89.
Mündlicher Vortrag von Dr. Franca Arduini und Dr. Sveva Gai am 25.10.2007 in Corvey
Tacitus, Publius Cornelius: Annalen. Lateinisch-Deutsch, hrsg. von Erich Heller. Mit einer Einführung von Manfred Fuhrmann. (Sammlung Tusculum) 3. Auflage Düsseldorf, Zürich 1997.
Thema 29: Reformation und Gegenreformation
Reformation und Gegenreformation
Die von Luther angestoßene reformatorische Bewegung hielt im Corveyer Land wie in anderen Regionen zunächst in der Stadt Einzug. Wahrscheinlich brachten Kaufleute die neue Lehre nach Höxter. Ihr Eintreffen verschärfte die oftmals brisante politische Lage im Streit um die Teilhabe am Stadtregiment. Auf dem Lande herrschte der Konflikt um die Selbständigkeit des Landadels vom Landesherren, der durch die neue Lehre ebenfalls eine neue Qualität gewann. Zusätzlich muss die Abhängigkeit von den Corveyer Schutzherren berücksichtigt werden. Während sich bisher die Landgrafen von Hessen und die Herzöge von Braunschweig die Vorherrschaft im Oberweserraum geteilt hatten, setzte um 1530 ein Umschwung zugunsten des Landgrafen ein. Fürstabt von Corvey war zu dieser Zeit Franz von Ketteler (1505-1547; Abb. ##), der den Anschluss an die Bursfelder Reform und damit eine Wiederbelebung der religiösen Kraft des Klosters vollzogen hatte. Während Herzog Heinrich der Jüngere Stift und Stadt in ihren Rechten bedrängte, fanden beide wiederholt Rückhalt im Landgrafen.
Franz von Ketteler, Corveyer Äbtegalerie. Stadtarchiv Höxter, Slg. Hermann Krekeler.© Franz von Ketteler, Corveyer Äbtegalerie. Stadtarchiv Höxter, Slg. Hermann Krekeler.Im Januar 1533 hielt Landgraf Philipp einen Fürstentag in Höxter ab, zu dem er seinen lutherischen Hofprediger mitbrachte und ihn vor geladener Gesellschaft predigen ließ. Offenbar gab es bereits Lutherfreunde in Höxter, die nun vom Rat verlangten, auch einen lutherischen Prediger zu berufen. Der Rat antwortete mit Rücksicht auf Abt und Petristift, dem der höxtersche Pfarrklerus unterstand, zunächst ablehnend. Schließlich überwog die Furcht vor einem Bürgeraufstand und Rat und Stadtherr gaben ihr Einverständnis. In dieser Situation konnte der vormalige Halberstädter Augustinerchorherr Johann Winnigstedt für die Kilianikirche gewonnen werden. Die von ihm verfasste evangelische Kirchenordnung wurde jedoch vom Rat abgelehnt. Die Nikolaipfarrei übernahm ein ehemaliger Minoritenbruder, die Petripfarrei Franz von Widdenen, der zusammen mit Winnigstedt in Wittenberg studiert hatte. Bei ihrem Eintreffen in der Petrikirche störten von Widdenen und seine Begleiter den altgläubigen Gottesdienst und stimmten das „Te Deum"[1] in deutscher Sprache an. Nach nur drei Monaten verließ er Höxter notgedrungen, woraufhin eine aufgebrachte Menschenmenge die Petrikirche stürmte und liturgische Geräte sowie Einrichtungs- und Wertgegenstände zerstörte oder entwendete.
Nach Verhandlungen mit dem Corveyer Stiftskapitel vermittelten landgräfliche Räte im Juli 1533 einen Vergleich: Die beiden Pfarrkirchen St. Nikolaus und St. Kilian wurden evangelisch, während die Petrikirche einer evangelischen Gemeinde und den katholischen Stiftsherren zur Verfügung stehen sollte. Im September 1536 kam es zu einem neuen Vertrag, worin den Stiftsherren das öffentliche Chorgebet und Messelesen untersagt wurde und sie ihre letzten Patronatsrechte und die Stiftsschule zugunsten des Rates aufgeben mussten. Die Augsburger Reform Kaiser Karls V. von 1548 stellte alles wieder in Frage. Durch einen Vergleich von 1550 wurde das Petristiftskapitel in den Besitz aller Vorrechte wie vor 1536 restituiert. Nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 und dem Amtsantritt von Abt Reinhard von Buchholz (1555-1585) gelangten die Evangelischen erneut in den Besitz sämtlicher Stadtpfarrkirchen. Nachdem die Minoriten bereits 1542 ihre Güter und Einkünfte dem Rat verkauft hatten, übergaben sie 1555 ihre Klostergebäude dem Corveyer Abt und zogen sich ganz aus Höxter zurück.
Um 1544 übernahmen die von Kanne als Gutsbesitzer und Patronatsherren der Pfarrkirche von Bruchhausen die Reformation und wohl ebenfalls in der Mitte des 16. Jahrhunderts die von Amelunxen als Gutsbesitzer und Patronatsherren von Amelunxen. Gemeinsam mit der Stadt Höxter und den von Stockhausen zu Lütmarsen bildeten diese 1566 die protestantischen Landstände des Corveyer Landes. Ernsthafte gegenreformatorische Bemühungen setzten unter Paderborner Einfluss erst durch Abt Dietrich von Beringhausen (1585-1616) ein. Eine stabile Lösung kehrte mit dem Corveyer Administrator und Fürstbischof von Münster Christoph Bernhard von Galen (1661-1678) ein, der eine katholische Ratsbeteiligung in Höxter durchsetzte und die Minoriten zurückholte. Hier wie in Bruchhausen und Amelunxen haben bis heute Gemeinden beider Konfessionen überdauert.
Michael Koch, Stadtarchivar
Literatur:
Alois Schröer, Die Reformation in Westfalen. Der Glaubenskampf einer Landschaft. Bd. 2. Münster 1983.
Johannes Graf von Bocholtz-Asseburg, Geschichte der Ortschaften und Sitze des Corveyer Landes. In: Westfälische Zeitschrift 54, 1896, S. 1-436.
[1] Te Deum laudamus (Dich, Gott, loben wir), der Anfang eines feierlichen lateinischen Lob- und Dankgesanges.
Thema 30: Der Heisterman-von-Ziehlbergsche Adelshof
Drei Jahrhunderte im Besitz der Familie Heisterman-von-Ziehlberg
Der Heisterman-von-Ziehlbergsche Hof zählt zu den bedeutendsten renaissancezeitlichen Baudenkmälern in der höxterschen Altstadt. Vermutlich wissen nur wenige Leser, dass zu dem einstigen Adelshof nicht nur die vor einigen Jahren sanierten Gebäude Westerbachstr. 35 und 37 gehören sondern auch das sogenannte Tillyhaus mit dem angrenzenden Haus Nr. 31.
Der sanierte Corveyer Lehnshof Westerbachstr. 35/37.© Stadt HöxterDer Hof hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Sein Ursprung geht zurück auf das wüstgefallene Paulsstift Niggenkerken (Neue Kirche) bei Corvey, das nach der Zerstörung der Stadt Corvey 1266/67 an die Petrikirche in Höxter verlegt wurde und in der Westerbachstr. 35/37 einen Propsteihof besaß. 1501 gelangte der Hof in den Besitz von Corvey, dessen Abt Franz v. Ketteler (1504-47) ihn an den Kanzler Heinrich Brinkman verlehnte. In der Urkunde von 1512 wird Brinkman auferlegt, das verfallene Anwesen wiederaufzubauen. An diese Baumaßnahme erinnert ein großer Gedenkstein von 1515, der im Forum Jacob Pins ausgestellt ist.
Nach mehreren Besitzerwechseln wurde 1582 der Corveyer Kanzler Johann Heisterman mit dem Hof belehnt, der die inzwischen wieder baufälligen Gebäude aufwendig umbauen ließ. 1610 erwarben seine Erben das angrenzende Grundstück Westerbachstr. 31/33 als Eigenhof dazu. Bis 1871 verblieb der Hof im Besitz der Familie Heisterman-von-Ziehlberg, die in der frühen Neuzeit zu den führenden Beamten- und Juristenfamilien in der Region zählte und 1652 in den Adelsstand erhoben wurde. Während des Dreißigjährigen Krieges wohnte von 1636 bis 1638 Abt Johann Christoph v. Brambach (1624-38) mit seinem Hofstaat auf dem Anwesen, da seine Residenz in Corvey durch die Kriegsgeschehnisse unbewohnbar war.
Renaissancezeitlicher Goldschmuck mit Smaragden.© Stadt HöxterDen ältesten erhaltenen Bauteil bildet das Haus Nr. 35 mit seinem im Kern mittelalterlichen steinernen Hinterhaus. Von dieser Steinkammer, die bereits in dem Lehnsvertrag von 1512 genannt wird, sind noch das Erd- und Kellergeschoss sowie der Vordergiebel erhalten. Um 1517 wurde ein Vorderhaus in Fachwerkbauweise errichtet. 1537 wurde der Hof um das Gebäude Nr. 37 erweitert. Der zwischen 1582 und 1585 erfolgte Umbau beider Häuser führte zu der heute noch im Wesentlichen erhaltenen Baustruktur. In diesem Zusammenhang wurde auch ein großer steinerner Abortschacht zwischen den Gebäuden angelegt, der 2005 entdeckt und untersucht wurde. Aus der Entsorgungsanlage stammen unter anderem Hunderte von Glas- und Keramikgefäßen sowie botanische und zoologische Speisereste, die Einblicke in das Alltagsleben auf dem Hof vom späten 16. bis in das späte 18. Jahrhundert gestatten. Die spektakulärsten Funde sind ein goldener Fingerring und ein goldener Gewandbesatz, die während des Dreißigjährigen Krieges in den Schacht gerieten. Seit 2008 beherbergt der ehemalige Lehnshof das Forum Jacob Pins, in dem auch die Geschichte des Anwesens thematisiert wird.
Auf dem angrenzenden Eigenhof wurde 1610/11 ein repräsentativer Fachwerkbau errichtet - das „Tillyhaus". Die nachträglich über dem Torbogen angebrachte Bauinschrift 1578 ist frei erfunden. Ob der kaiserliche General Tilly 1631 tatsächlich hier logierte, ist nicht gesichert. Das traufenständige Nebenhaus Nr. 31 entstand bereits 1585.
Andreas König, Stadtarchäologe
Literatur:
G. Ulrich Großmann, Der Heisterman-von-Zielbergsche Hof in Höxter. In: Adelshöfe in Westfalen. Schriften des Weserrenaissance-Museums Schloß Brake 3, München/Berlin 1989, 62-142.
Andreas König, Edelsteine, weißes Gold und exotische Getränke - Sachkultur auf einem frühneuzeitlichen Adelshof in Höxter. In: Fundgeschichten - Archäologie in Nordrhein-Westfalen. Schriften zur Bodendenkmalpflege in Nordrhein-Westfalen 9, Mainz 2010, 278-282.
Cornelia Lange, Holger Reimers, Einblicke in adlige Wohnkultur am Ende des 16. Jahrhunderts. Der Adelshof Heisterman-von-Ziehlberg in der Westerbachstraße 35/37. In: Hofstube und Frauenzimmer. Renaissance in Höxter. Kulturgeschichtliche Beiträge der Sparkasse Höxter 8, 2006, 19-42.
Thema 31: Vom Amelunxenschen Hof zur Dechanei
Vom Amelunxenschen Hof zur Dechanei
Die heute Dechanei genannten Renaissancehäuser Marktstraße 21 gehen auf einen Lehnhof der Reichsabtei Corvey in Höxter zurück. Derartige Höfe wurden an Burgmannen oder hohe Beamte als vererbbares Dienstlehen oder auf Lebenszeit (Leibzucht) verliehen. Der Hof bildete den nördlichen Abschluss des Alten Markts und lag an der Nord-Süd-Hauptverkehrsachse, der Bremer Straße, die heute noch aus dem Verlauf von Nicolai-, Markt- und Stummrigestraße abzulesen ist. Im Kern geht das Anwesen auf ein westliches und zwei östliche mittelalterliche Gebäude zurück.
31-Dechanei: Ansicht nach B. Liebold (1872) mit Wappenstein von der Südfassade (oben)© Stadt HöxterIn den Besitz der Ritter von Amelunxen gelangte dieser Corveyer Lehnhof vorübergehend 1293 unter dem Namen Stockhof. Erneut wird der Amelunxensche Hof erst wieder 1396 genannt und zugleich an der Logerenstraße verortet. In ihrem östlichen Abschnitt der Hennekenstraße entsprechend querte die Logerenstraße vormals die Marktstraße und reichte bis in den Bereich des Möllingerplatzes. Angehörige des Rittergeschlechts von Amelunxen dienten Corvey u. a. als Burgmannen in Höxter und auf der Brunsburg. 1396 wurde der Hof an den reichen und angesehenen Bürger Gottschalk de Loger (übersetzt: der Gerber, †1458) unterverliehen. Seit 1404 ist Gottschalk als Bürgermeister belegt. Seine Witwe Adelheid (†1511), gebürtig aus dem Rittergeschlecht von Voltessen, musste den Hof 1498 verkaufen. Sie zog in die Rodewiekstraße, wo sie sich einer Gemeinschaft von Beginen, einer mittelalterliche Laienbewegung von Frauen, die nach strengen christlichen Idealen leben wollten, anschloss.
Der neue Besitzer des Amelunxenschen Hofes war der Kaufmann Tile Schlüter (†1508), der zuvor als Bürgermeister in Bodenwerder amtiert hatte und seit 1500 im höxterschen Rat saß. Schließlich gelangte der Hof an seinen ebenfalls vermögenden Schwiegersohn Hans Veltman, der Bürgermeister war und als Vorkämpfer der Altgläubigen nach der Einführung der Reformation in Höxter (1533) agierte. Veltman war größter Kreditgeber von Fürstabt Franz von Ketteler (1505-1547), der häufig in seinem Haus abstieg und an seiner Tafel speiste. Nach dem Tod von Hans Veltman zogen die von Amelunxen ihren Lehnhof wieder an sich.
In den Jahren 1564 und 1571 baute Christoph von Amelunxen (†1574) den Hof unter Verwendung älterer Bauteile grundlegend um und errichtete den repräsentativen Renaissancebau, der sich bis heute weitestgehend erhalten hat. Die finanziellen Grundlagen schuf der Bauherr als Rittmeister in Diensten des Königs von Frankreich. Durch ein großes Tor betrat man vom Alten Markt eine ungewöhnlich große Diele, die den gesamten westlichen Bau einnahm. Von hier konnten die beiden Erdgeschossräume und die drei Kellergewölbe des östlichen Baues erreicht werden. In die Südwestecke der Diele wurde noch im 16. Jahrhundert eine kleine Stube mit Kammer eingestellt. Sie zeichnet sich mit einer renaissancezeitlich typischen Utlucht - ein Vorbau, dessen Name sich vom Auslugen, Ausschau halten ableitet - in der Fassade ab. Der heute im Eingangsbereich stehende Küchenkamin wurde wohl beim Umbau von 1678 aufgestellt. Im Obergeschoss lagen vier Säle. Der östliche Bau wurde zusätzlich mit einer mehreckigen Utlucht ausgestattet.
31- Grundriss Dechanei: Grundriss vom Erdgeschoss und Querschnitt durch den südlichen Gebäudeteil (nach 1678)© Stadt HöxterSchon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert waren die von Amelunxen zur Verpfändung ihres Hofes gezwungen. Schließlich verloren sie einen 1710-1728 von der Reichsabtei Corvey geführten Lehnsprozess um den Stockhof. 1796 erwarb Pfarrdechant Johann Campill (1741-1810) den Lehnhof zugunsten der St. Nikolaigemeinde. Anschließend bürgerte sich die Bezeichnung als Dechanei ein. Bis heute dient der vormalige Lehnhof als Wohnung für den Pfarr- oder Stadtdechanten und als Sitz des katholischen Pfarramts. Seinen gegenwärtigen Ruf als meistfotografiertes Gebäude von Höxter verdankt die Dechanei ihrer vielgliedrigen Südfassade sowie insbesondere der Renovierung von 1912/13, die auf eine möglichst malerische Rekonstruktion abzielte.
Michael, Stadtarchivar
Literatur:
Die Dechanei in Höxter. Aus der Geschichte eines Baudenkmals der Renaissancezeit, hrsg. von der St. Nikolai-Kirchengemeinde Höxter. Holzminden 2006.
Thema 32: Die barocke Klosterkirche
Die barocke Klosterkirche
Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen ließ die karolingische Klosterkirche abreißen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) setzte in allen deutschen Ländern ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine erhöhte Bautätigkeit ein, die häufig den Umbau oder die Erneuerung von sakralen Gebäuden aller Art umfasste.
Diese Epoche erstreckte sich über rund hundert Jahre. Eines der bedeutendsten Denkmale kirchlichen Neubaus bildet die barocke Kirche Corveys.
Gesamtansicht der barocken Kirche (Südseite). Quelle: G. U. Großmann, Höxter und Corvey. Petersberg 2000© G.U. GroßmannUnter Christoph Bernhard von Galen, dem Fürstbischof von Münster und Administrator von Corvey (1661-1678), wurden das Langhaus und der Chor der karolingischen Klosterkirche 1665 abgebrochen. Die Gestalt und die Größe der Gründungskirche sind durch ein Aufmaß von 1663 überliefert, dessen Inhalte durch archäologische Grabungen bestätigt werden konnte.
Christoph Bernhard von Galen ließ mindestens fünf Vorentwürfe für den Neubau erstellen, von denen noch vier in westfälischen Archiven, darunter in Corvey, aufbewahrt werden.
Von 1667-1671 erfolgte die Neuerrichtung der Kirche in nachgotischen Formen unter Leitung des Maurermeisters Niclas Dentel. Der Entwurf basierte auf einer Planung eines Ordensbruders des Bischofs, des Hildesheimer Kapuzinerpaters Polycarp, von 1667.
Die Kirche orientiert sich in ihren Längen- und Breitenabmessungen annähernd am Vorgängerbau.
Es handelt sich um einen verputzten nachgotischen Bruchsteinsaal mit drei Jochen, an den sich nach Osten ein großer Chorraum, ebenfalls dreijochig, anschließt. Der Chorabschluss ist polygonal fünfseitig ausgeführt.
Nicht ausgeführter Grundrissentwurf für die barocke Kirche, P. Polycarpus, 1664. Quelle: Fürstliche Bibliothek Schloss Corvey© Fürstliche Bibliothek Schloss CorveyDas Äußere mit den dreibahnigen Spitzbogenfenstern mit Fischblasenmaßwerk ist schlicht gehalten; nur der Chor gliedert sich durch gestufte Strebepfeiler. Die unterschiedlich breiten, imposanten Satteldächer des Kirchengebäudes sind mit der regional typischen Eindeckung aus Sandsteinplatten des nahen Sollings eingedeckt. Über dem Chor befindet sich ein mit Kupferblech beschlagener Dachreiter mit geschweiftem Laternenaufsatz.
Am Chorscheitel wurde in den Jahren 1717/18 die Benediktskapelle errichtet, südlich am Langhaus 1790 eine Marienkapelle.
Der Innenraum wird gegliedert durch Wandpfeiler der drei rippengewölbten Joche; der eingezogene Chor ist gegenüber dem Schiff um drei Stufen erhöht. Die Chorgewölbe lagern auf Volutenkonsolen, die quadratischen Wandpfeiler mit der zurücktretenden Wand bilden flache, raumhohe Nischen zur Aufstellung von Seitenaltären und Beichtstühlen.
Die Bedeutung der Kirche und der geschlossene Gesamteindruck ihres Innenraums werden wesentlich bestimmt durch die überaus reiche barocke Ausstattung. Sie wurde 1674 bis 1683 nach Entwürfen des Paderborner Hofmalers Johann Georg Rudolphi ausgeführt. Die Schnitzarbeiten stammen von Johann Sasse. Die Ausstattungsstücke, wie beispielsweise der Hochaltar mit Weinrankensäulen, Trinitätsbild und Figuren der Kirchenpatrone Stephanus und Vitus sowie Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, die Nebenaltäre, die Kanzel, zwei Beichtstühle, das Chorgestühl mit Relieffiguren von Corveyer Heiligen und Äbten und die Kirchenbänke mit ihren üppig geschnitzten Wangen, tragen zur hohen kunstgeschichtlichen Bedeutung bei und sind ausdrücklich Gegenstand der Erfassung in der Denkmalliste.
Am Übergang zum vorgelagerten karolingischen Westwerk befindet sich die Westempore, von überlebensgroßen Engelsfiguren getragen, mit dem prachtvollen Orgelprospekt. Das Orgelwerk, erbaut 1681 von Andreas Schneider, gehört als eines der wenigen überkommenen Instrumente mit Springladentechnik zu den bedeutendsten Orgeln Westfalens.
Henning Fischer
Literatur:
Friedrich K. Sagebiel, Baumeister in und um Corvey unter besonderer Berücksichtigung der Neuzeit. Detmold 1973.
Georg Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Nordrhein-Westfalen II: Westfalen. München 2011.
Thema 33: Domäne Corvey
Domäne Corvey
Die auf den Dreißigjährigen Krieg folgende Zeit des Hoch- und Spätbarock war durch umfangreiche und lang andauernde bauliche Erneuerungen der Abtei gekennzeichnet. Diese Entwicklung war eng verbunden mit der Person Christoph Bernhard von Galens, den sich der Corveyer Konvent 1661 zum geistlichen und weltlichen Herrn gewählt hatte. Unter dessen Leitung wurde die frühmittelalterliche Kirche durch den noch heute existenten Bau ersetzt. In den nachfolgenden Jahrzehnten schloss sich der Neubau der mehrflügeligen Schlossanlage unter den Äbten Florenz von dem Felde und Maximilian von Horrich an. Die Äbte Carl von Blittersdorf und Caspar von Böselager komplettierten die Klosteranlage durch Gebäude wie die Remise (die heutige Gastronomie), das Vorgebäude mit Toranlage und Uhrenturm sowie das sog. Teehaus.
Plan des Klosters einschl. Ökonomie von 1795, Bildarchiv des LWL© LWLIn die späte Phase dieser barocken Erneuerungen fiel auch die Errichtung der Wirtschaftsgebäude des Klosters unter den Äbten von dem Felde, von Horrich und von Blittersdorf.
Klöster waren in allen Zeiten nicht nur religiöse Zentren, sondern hatten ebenso wirtschaftliche Funktionen zu erfüllen. Die klösterliche Gemeinschaft versuchte, eine autarke Versorgung sicherzustellen und führte landwirtschaftliche Betriebe und Werkstätten. Dies nicht nur im Kloster selbst, sondern auch darüber hinaus, etwa in den Stadthöfen, den Außenstellen der Klöster in den Städten. Häufig wurden Laienbrüder, sog. Konversen, als Fachleute für die Organisation der ökonomischen Belange beschäftigt. Die Einnahmen, die aus den materiellen Abgaben des jeweiligen Einzugsbereiches erwuchsen waren eine wichtige Unterstützung für das wirtschaftliche Überleben der Klöster.
Für eine abgeschlossene, sachgerechte und räumlich ausreichende Aufbewahrung dieser Abgaben und für weitere verschiedene Nutzungen mit landwirtschaftlichem Hintergrund war die Errichtung umfangreicher geeigneter Gebäude erforderlich.
Zwischen 1709 und 1731 entstand auch in Corvey zur Gewährleistung dieser ökonomischen Funktionen und Ansprüche ein ausgedehnter Wirtschaftsbereich.
Luftbild der Ökonomie, 2004, Stadt Höxter© Stadt HöxterDiese Anlage wurde mit drei großzügigen, jeweils etwa 150 m langen Flügeln südlich angrenzend an Kirche und Uhrenturm errichtet. Der dreiseitige Wirtschaftshof wurde mit Öffnung nach Norden angelegt; er ist heute jedoch durch eine vorhandene Abpflanzung mit Bäumen, Sträuchern und Mauern optisch vom Schlossbereich bzw. dessen vorgelagerter Freifläche sowie vom Westwerk abgegrenzt.
Die zweigeschossigen Ökonomiegebäude sind massiv gemauert und weisen große Satteldächer mit der prägenden Dachdeckung aus Sollingsandsteinplatten auf. Allein am Südflügel zeigen sich zwei Dachabschnitte mit Tonziegeldeckung, die einer Reparatur Mitte der 1940er Jahre nach einem Flugzeugabsturz geschuldet sind.
Die Ökonomiebauten präsentieren sich weniger aufwendig als die Schlossbauten. Gewisse zeittypische und anspruchsvolle Schmuckformen wie Muschelnischen mit Skulpturen der Klosterpatrone St. Stephanus und St. Vitus, Sandsteinquaderungen der Tore, durch geschweifte Giebelfragmente bekrönte und wappenverzierte Portale im Ost- und im Westflügel sind immerhin vorhanden.
Im Südflügel, Errichtung ab 1709, waren Scheune und Schafstall untergebracht. Das sog. Schäfertor mit vorgelagerter Gräftenbrücke wurde 1865 geschlossen.
Der ab 1716 erbaute östliche Flügel beherbergte das Back- und Brauhaus und eine Stellmacherei. Der 1731 erstellte Westtrakt bot Stallungen, einer Kornbrennerei und etlichen Bedienstetenwohnungen Raum. Die dortige Durchfahrt entstand 1865.
Die Anlage des Wirtschaftshofs blieb bis heute recht unverändert erhalten. Einige Modernisierungen und Einbauten erfolgten im 20. Jahrhundert. Sie ist denkmalwerter Teil der Gesamtanlage Corveys. Eine landwirtschaftliche Nutzung erfolgte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.
In den vergangenen Jahren konnten einige Bereiche erfolgreich und denkmalverträglich umgenutzt und umgestaltet werden. Eine Weinhandlung, ein Aktivhotel und ein Metallhandwerksunternehmen etwa sind hier ansässig.
Henning Fischer
Literatur:
Friedrich K. Sagebiel, Baumeister in und um Corvey unter besonderer Berücksichtigung der Neuzeit. Detmold 1973.
Günter Tiggesbäumker / Peter Knaup, Corvey - Zeuge einer großen Vergangenheit. München, Berlin 2008.
Thema 34: Corveyer Allee und Corveyer Tor
Corveyer Allee und Corveyer Tor
Die Corveyer Allee mit ihrem heutigen Verlauf geht zurück in die Zeit des frühen 18. Jahrhunderts. Nachdem unter den Corveyer Fürstäbten von Galen, von dem Felde und von Horrich mit dem bedeutenden Kirchenbau, dem mehrflügeligen Konvent und Teilen der Klosterökonomie die grundlegenden Elemente der mittelalterlichen Klosteranlage erneuert wurden, verlegte man auch den Verlauf der Jahrhunderte alten Wege- und Straßenverbindung zwischen Corvey und Höxter und baute eine als Allee gestaltete Straßenachse.
Das Alte Corveyer Tor. Bleistiftzeichnung Marie Bartels von 1859. Museum Höxter-Corvey© Stadt HöxterDie alte Verbindung, deren genauer Verlauf heute nicht mehr bekannt ist, verlief näher an der Weser zwischen dem sog. Alten Corveyer Tor - dieses befand sich im südöstlichen Bereich der Stadt Höxter in der Nähe der Marienkirche - und dem Kloster. Wo die alte Wegeverbindung Corvey erreichte, ist nicht belegt. Es kommt der Bereich der heutigen Eingangssituation an der Brücke mit den Wachhäuschen in Frage, alternativ die Stelle beim Uhrenturm, der axial zu Westwerk und Kirche angeordnet ist.
Beim Bau der Corveyer Allee verlängerte man die bestehende, geradlinige Straßenachse der heutigen Grubestraße und Corbiestraße in Höxter. Diese Straßen waren entlang des Grubekanals, der im 9. Jahrhundert im Auftrag der Corveyer Mönche angelegt wurde und das Kloster mit Wasser versorgte, angelegt worden. Im 18. Jahrhundert wurden hier zahlreiche repräsentative, zeittypische Bauten errichtet, wie das noch heute existente Adelspalais der Henriette von Ziehlberg von 1791, heute Corbiestraße 20, auf der Parzelle des vormaligen Erbmarschallhofs.
Mit der Anlage der neuen Allee verbunden waren die Aufgabe des Alten Corveyer Tors, die Schaffung eines Durchbruches durch die alte Stadtbefestigung in der Achse der neuen Wegeverbindung und die dortige Errichtung des Neuen Corveyer Tors.
Im Allgemeinen wird die Anlage der Corveyer Allee in das Jahr 1716 datiert. In einem Tauschvertrag zwischen Fürstabt Maximilian von Horrich und den Minoriten vom 20. Februar 1715 heißt es: „...demnach Wir vor einiger Zeit an unserer Stadt Hüxar das so genannte neue Tor erbauen und das alte vormalige Corveysche Tor abschaffen und zumauern lassen...". Danach muss der Bau des neuen Tores gleich nach von Horrichs Wahl zum Abt am 4. März 1714 begonnen worden sein. Mit der Anlage der Allee versuchten die Bauherren die wieder hergestellte Unterordnung der Stadt Höxter unter die Fürstabtei deutlich zu machen.
Das Neue Corveyer Tor. Stich von 1841. Westfälisches Landesmuseum für Kunst- u. Kulturgeschichte© Stadt HöxterEs existieren sowohl vom alten als auch vom neuen Tor graphische Darstellungen. Ein Holzstich von 1841 zeigt recht deutlich die Gestalt der neuen Anlage. Durch die dichten, die gesamte Bildhöhe einnehmenden Alleebäume fällt der Blick auf das Tor, einen niedrigen Rechteckbau mit welscher Haube. Die hohe Rundbogenöffnung rahmt eine rechteckige, gequaderte Portaleinfassung. Über dem Scheitel befindet sich ein Wappen, an den Ecken gibt es vasenartige Aufsätze. Das Obergeschoss markieren zwei kleine Fenster. Durch die Öffnung sind Gebäude der Grubestraße zu erkennen.
Die schnurgerade verlaufende Allee darf man sich als repräsentative, mit Kalksteinen befestigte Straße mit beidseitigem Bestand an hohen Kastanien als Alleebäume vorstellen. Zunächst war sie unbebaut, bis dann ab 1865 erst das große Bahnhofsgebäude und allmählich auch eine beidseitige Bebauung mit gewerblichen, vorwiegend aber Wohngebäuden entstand.
Kurz nach der Entfernung des alten Tores mit dem Bau der Bahnlinie 1865 wurde auch das Neue Corveyer Tor bereits 1867/1868 wieder abgebrochen, da infolge des anwachsenden Verkehrs Probleme bei der Durchfahrt entstanden. An seiner Stelle errichtete man zwei schlichte Sandsteinpfeiler, um weiterhin die Torsituation zu kennzeichnen.
Wesentlich erneuert wurde die Allee zuletzt 1978, indem sie verbreitert, asphaltiert und mit neuer Baumpflanzung versehen wurde. Bei der Schelpebrücke wurde hierbei ein Wechsel der Baumgattungen vorgenommen.
Was Aufbau, Breite und Profil der Straße und auch deren Bepflanzung anbelangt, ist die barocke Allee Geschichte; historische Substanz dürfte sich nicht oder allenfalls in geringem Umfang erhalten haben.
Henning Fischer
Literatur:
Hans Joachim Brüning, Bemerkungen zur Corveyer Allee. Höxter 1979.
Westfalia Picta, Band V, Kreis Höxter, Kreis Paderborn. Bielefeld 1995.
Thema 35: Dreißigjähriger Krieg
Dreißigjähriger Krieg - Gottesstrafe oder Spielball der Mächte im Dreißigjährigen Krieg
Die Reichsabtei Corvey besaß um 1600 keine uneingeschränkte Herrschaft im Stiftsterritorium. Sie war abhängig von ihren Schutzherren, den Landgrafen von Hessen und den Herzögen von Braunschweig, und musste Rücksicht auf die heimischen Landstände (Kloster Brenkhausen, Ritterschaft, Stadt Höxter) nehmen. Als die Ständekämpfe in Böhmen im „Prager Fenstersturz" 1618 eskalierten, begann der Dreißigjährige Krieg. Die Ursache lag in der nach der Reformation einsetzenden Konfessionalisierung der Territorien im Reich („cuius regio, eius religio") und den Auseinandersetzungen um die Beteiligung der Landstände (Adel, Klerus, Städte) an der Landesverwaltung. Um die Krise zu überwinden, propagierte man den Absolutismus. In den Jahren 1621/22 berührte der Krieg erstmals das Corveyer Land mit Angriffen auf Höxter, als Herzog Christian von Braunschweig (1599-1626) vor dem Hintergrund des jülich-klevischen Erbschaftsstreites Truppen nach Westfalen verlegte. Er ließ Lippstadt und anschließend Soest und Paderborn einnehmen, wobei ihm der Paderborner Domschatz in die Hände fiel. 1623 überschritt der Feldherr der katholischen Liga Johann Tserclaes Graf Tilly (1559-1632) bei Höxter die Weser und legte eine Besatzung in die Stadt. Im Zuge der von Pestepidemien begleiteten Kriegsereignisse kam es zu großen Belastungen durch wechselnde Einquartierungen, Kontributionen und Zerstörungen und zu einem drastischen Bevölkerungseinbruch in Höxter und Umgebung.
35- Belagerung Höxters 1640 (Merian, Topographia Westphaliae) (a) und 1646 (Merian, Theatrum Europaeum) (b).© Stadt HöxterDurch den Kriegseintritt des protestantischen Königs Christian IV. von Dänemark und das verstärkte Eingreifen aus den habsburgischen Spanischen Niederlanden weitete sich der Krieg nach 1623 aus. Wie ohnmächtig Corvey alles über sich ergehen lassen musste, zeigt die vierjährige Gefangenschaft des rechtmäßig vom Konvent gewählten Fürstabt Johann Christoph von Brambach (1624-38) durch den Kölner Erzbischof in Neuhaus bei Paderborn. Nach der Unterwerfung Norddeutschlands durch die Heere Tillys und Wallensteins erließ Kaiser Ferdinand II. 1629 das Restitutionsedikt, das die Rückgabe des gesamten, von protestantischen Fürsten seit 1552 eingezogenen Kirchengutes an die katholische Kirche vorsah. Der Machtzuwachs des Kaisers weckte jedoch Gegenkräfte im katholischen Lager und es kam 1630 zum Zerwürfnis mit Herzog Maximilian von Bayern, dem politischen Führer der Liga. Zudem trat nun der schwedische König Gustav II. Adolf in den Krieg ein und wurde zum Retter des Protestantismus im Reich. Sein Hauptverbündeter im Reich war Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel (1627-37). Im Oktober 1631 ließ der Landgraf Paderborn, Warburg und Höxter besetzen und im Februar 1632 schenkte ihm der Schwedenkönig die Hochstifte Münster, Paderborn und das Stift Corvey.
35-Kriegsherren:Christian von Braunschweig (a), Octavio Piccolomini (b), Carl Gustav Wrangel (c).© Stadt HöxterVon den Kriegsereignissen hat sich im lokalen Gedächtnis Höxters vor allem die „Blutnacht" von 1634 erhalten. Nach Augenzeugenberichten wurde die von hessischen Soldaten und der Bürgerschaft verteidigte Stadt von kaiserlichen Truppen unter General Freiherr von Gleen belagert. Zur gleichen Zeit hatten sich der Fürstabt und einige Kapitulare mit Reliquien und dem Archiv nach Höxter in das Minoritenkloster geflüchtet. In den frühen Stunden des 13. April kam es zum Sturm auf die Stadt, in dessen Folge etwa 1.100 Menschen umgekommen sein sollen. Entführt oder beschädigt wurden der silberne Vitusschrein mit den Reliquien des heiligen Vitus, wertvolle Ornate, liturgische Gerätschaften, ein Teil des Archivs und der größte Teil der berühmten mittelalterlichen Bibliothek. Die Kriegsbelastungen dauerten an. Im Herbst 1640 drangen kaiserliche Truppen unter ihrem Feldherrn Herzog Octavio Piccolomini (1599-1656) von Hessen aus in Westfalen ein und wandten sich gegen Höxter. Die Armee von 60.000 Mann bezog ein Lager, das sich von Bruchhausen bis Stahle erstreckte. Nochmals wurde die Stadt 1646 von dem schwedischen Feldherrn Graf Carl Gustav Wrangel (1613-76) belagert und eingenommen. Nach vierjährigen Friedensverhandlungen ging der lange Krieg 1648 mit den Verträgen von Münster und Osnabrück zu Ende. Die immensen Schäden und Verluste aber wirkten in Corvey und Höxter noch lange nach.
Michael Koch, Stadtarchiv
Literatur:
Karl Thiele, Chronik der Stadt Höxter. Höxter 1928.
Paul Wigand, Denkwürdige Beiträge für Geschichte und Rechtsalterthümer aus westphälischen Quellen gesammelt. Leipzig 1858.
Thema 36: Weinbau im Fürstentum Corvey
Weinbau im Fürstentum Corvey
Im Gebiet der Reichsabtei Corvey lässt sich bereits seit dem 12. Jahrhundert Weinanbau nachweisen. Unter Abt Wedekind (1189-1203) waren am Bielenberg Weingärten entstanden. Schon bald aber wurden diese Anlagen - vermutlich wegen zu schlechter Erträge - aufgegeben und stattdessen Hopfen angebaut.
In Höxter lässt sich im Jahre 1645 wieder ein Weinberg am Bielenberg nachweisen.
Federzeichnung von 1950, nach einem Gemälde des späten 18. Jh., Heimatkundliche Sammlung Julius Henze© Stadt HöxterErst im Jahre 1680 erhalten wir über den Corveyer Weinbau am Räuschenberg schriftliche Informationen. Wir verdanken diese den Tagebuchaufzeichnungen des Mönches und späteren Abtes Florenz von dem Felde (1696-1714). Unter dem 25. Mai 1680 finden wir folgenden Eintrag in seinem Tagebuch: Eine Weinberganlage am Fuße des Reuschenberges wurde unternommen, welche der ehrwürdige Herr Christopherus (gemeint ist Fürst Abt Christoph von Bellinghausen 1678-1696) mit großem Eifer, Sorgfalt und Mühe, auch mit nicht geringen Kosten zu bepflanzen anfing. Hierzu wurde er veranlasst durch den aus der Wetterau stammenden Weingärtner Johann Rupen (Johannes Reupe).
Was zunächst mit einer Anbaufläche von drei bis vier Morgen (das sind 7.500-10.000 qm) begann, wurde in relativ kurzer Zeit auf 18 Morgen erweitert (45.000 qm). Diese Erweiterung hat sich nach Berichten der Zeit ziemlich negativ auf die Güte des Rebsaftes ausgewirkt. 1689 ließ der Fürstabt die Josephskapelle am Weinberg errichten. Sein Wappen über dem Portal und die in Stein ausgebildeten Trauben an den Pfeilern deuten bis heute auf jene Zeit. Das Weihejahr der Kapelle ist in dem Epigramm, welches als Umlaufband die Kapelle schmückt, als ein sog. Chronostichon versteckt. Die hervorgehobenen Buchstaben entsprechen lateinischen Zahlen, die in der Summe addiert die Zahl 1690 ergeben.
Es wurden zu dieser Zeit aber noch weitere Gebäude am Weinberg errichtet.Aus den Tagebuchaufzeichnungen erfahren wir: Sie bauten auch daselbst verschiedene Gebäude, erstlich oben am Berg ein kleines Lusthaus, zweigeschossig. Ein oberes und unteres Zimmer mit einem in den Fels ausgehauenen Keller. In solchem taten sich ihre hochfürstlichen Gnaden nicht allein mit denen häufig angekommenen Fremden öfters belustigen, sondern sie blieben daselbst auch sowohl des Tages als nachts nebst einem einzigen Lakaien. Zweitens wurde unten am Berg ein stattlich Haus gebaut, welches nicht allein zum Keltern sondern auch zum Wohn- und Wirtschaftshaus für den Weingärtner, welcher daselbst mit Weib und Kindern wohnte, und Wein, Bier und Branntwein verzapfte, erbaut. Das Richtfest dieses Gebäudes soll am 26. Juni 1686 stattgefunden haben. Außer diesem Gebäude entstand noch ein herrliches weitläufiges Wohnhaus oben am mehrbesagten Berge mit Küche, Kellern, vielen Zimmern, einem überaus großen Saal, wie auch einer Hofkapelle.
Wir wissen, dass am 8. Dezember 1690 auf Anweisung der Bursfelder Kongregation eine Visitation durch den Abt des Klosters Grafschaft (im Sauerland) in Corvey stattgefunden hat. Abt Emmerich Quincken ordnete in seinem Bericht an, dass das Weinberghaus abzureißen sei und der Weinberg nicht weiter ausgedehnt werden dürfe. Somit hat sich der Abt an die Visitationsbeschlüsse gehalten, indem er das Gebäude, welches noch nicht einmal fertig gestellt war, wieder abbrechen ließ. Als der Abt am 12. März 1696 verstarb, wurde der Weingärtner Rohden zwar weiterhin beschäftigt und entlohnt, die Anlage brachte aber keinerlei Nutzen, da die Qualität der Weine von Rhein und Mosel weit besser waren. Zwei Jahre später reduzierte man die Weinanbaufläche auf sechs Morgen und wandelte die anderen Flächen zu einem Acker um. Auch wurde der Vertrag mit dem Weingärtner verändert. Er musste die verbliebenen sechs Morgen auf eigene Kosten bewirtschaften, erhielt zunächst aber vier Handdienste, jeder zu 24 Tagen, Weide für zwei Kühe, Korn und freie Wohnung. Ebenso behielt er das Recht, Branntwein und Bier auszuschenken und Brennholz vom Stift zu fordern. Im Gegenzug verpflichtete sich Rohden, die Erträgnisse aus der Ernte mit Corvey zu teilen. Auch diese Regelung war nicht tragfähig, alldieweil Missernten sich fortsetzten und nur etwa ½ Ohm untüchtigen Weines erzeugt werden konnten. Das Land wurde soweit als möglich ebenfalls in Acker umgewandelt. Über die Gebäude erfahren wir, dass das kleine Lusthaus abgebrochen wurde.
Die Josef-Kapelle mit der unterhalb des Weinberges verlaufenden Bundesstraße 64/83 um 1955.
Foto: Hans Bölte, Westfalenblattarchiv, heute Stadtarchiv Höxter© Stadt HöxterFestzustellen bleibt, dass von der Anlage des Weinberges bis zu seinem Niedergang nicht einmal 20 Jahre vergangen waren. Abt Florenz von dem Felde schätzt, dass das Unternehmen Weinbau das Stift 15-16.000 Taler gekostet hat. Als alleiniges Gebäude blieb wegen der Andacht nur die Josephskapelle erhalten, obgleich man sich wegen der großen Risse die Frage stellte, ob sie noch lange Bestand haben würde. Der Bericht schließt mit den mahnenden Worten: Dies habe ich gut befunden zu schreiben, damit man wissen möge, wie das Werk seinen Anfang genommen und warum es seinen Untergang gehabt, man sich auch ins Künftige hüten möge, der gleichen wiederum anzufangen.
Wilfried Henze
Ortsheimatpfleger
Thema 37: Der barocke Klosterbau
Der barocke Klosterbau
Mit der Klosterkirche, die die frühmittelalterliche Kirche ersetzte und auf Initiative des Münsteraner Fürstbischofs und Corveyer Administrators Christoph Bernhard von Galen ab 1667 errichtet wurde, war der erste barocke Neubau in Corvey entstanden. Die Neuerrichtung der Klostergebäude wurde unter dem Nachfolger Fürstabt Florenz von dem Velde betrieben. Dies bildete den Beginn des vom Barock geprägten Corvey, dessen Substanz und Gestalt zu wesentlichen Teilen auch heute noch existent und ablesbar sind.
Nordflügel mit Mittelrisalit um 1910, Westfälische Kommission für Heimatschutz© Stadt HöxterBei diesem Bauwerk handelt es sich um die in ihrer Größe anspruchsvollste barocke Klosteranlage Westfalens. Die ehemaligen Konventsgebäude, die heute das Schloss mit dem Museum Höxter-Corvey beherbergen, befinden sich nördlich der Kirche auf einem geschlossenen, langgezogen-rechteckigen Grundriss um zwei Binnenhöfe herum angeordnet. Auch wenn archäologische Grabungen nur partiell durchgeführt werden konnten, geht die Wissenschaft davon aus, dass große Teile der barocken Gebäude über den erhaltenen Fundamenten der karolingischen Anlage errichtet wurden.
Der Bau der Konventsgebäude erfolgte ab 1699 nach den Plänen eines oder mehrerer unbekannter Architekten. Begonnen wurde mit dem West- und Nordflügel; hier befand sich der Gästetrakt und hier residierte der Abt. Der Ostflügel und der Mitteltrakt wurden zur Aufnahme des Konvents errichtet. Die mehrflügelige Anlage konnte bis 1714 im Rohbau fertig gestellt werden. Weitere Bauarbeiten und der Innenausbau erfolgten bis 1718 unter von dem Veldes Nachfolger Maximilian von Horrich (1714-1721).
Obgleich Corvey einen an Größe und Repräsentation in Norddeutschland herausragenden Anspruch vertrat, blieb seine barocke Ausprägung in Gestaltung und Ausstattung deutlich schlichter als bei zeitgleich entstandenen süddeutschen Klöstern.
Die Konventsgebäude wurden als verputzte Bruchsteinbauten in zweieinhalbgeschossiger Bauweise mit Werksteingliederung errichtet. Die großen, gewalmten Satteldächer sind komplett mit dem ortsbildprägenden Sandstein aus dem Solling eingedeckt.
Im Norden sind die Flügel eingefasst von vorgezogenen quadratischen Ecktürmen mit geschweifter Haube und hoher Spitze; diese sind mit Naturschiefer eingedeckt. Den Abschluss im Süden bilden Kirchenbau und Westwerk.
Die Fassaden der Konventsgebäude zeigen sich ungegliedert bis auf den Nordflügel: An dessen Außenseite gibt es einen dreiachsigen, übergiebelten Mittelrisalit. An mehreren Stellen finden sich Pilasterportale mit Dreiecks- oder Segmentbogengiebel. Davon sind einige aufwendiger mit zum Teil erneuerten Sandsteinskulpturen gestaltet. Seitlich an der Durchfahrt der Westfassade befinden sich die Figuren der beiden Stifter, Karl der Große und Ludwig der Fromme, mit lateinischen Inschriften darunter.
Blick aus dem Nordturm des Westwerks auf den Westflügel, Stadt Höxter© Stadt HöxterDer an die Kirche angrenzende Konventhof, der sogenannte Friedgarten, weist eine an drei Seiten umlaufende, in den Innenraum einbezogene Kreuzgangsgalerie auf. Deren Wandvorlagen, Gurte und Rippen der Gratgewölbe sind mit in den letzten Jahrzehnten wiederhergestellter farbenkräftiger Fassung entsprechend der Bauzeit versehen.
Einige Räume vorwiegend der Obergeschosse weisen eine reichere Ausstattung auf: Im Westflügel liegt der sogenannte Kaisersaal, ein die ganze Gebäudetiefe einnehmender, auch das obere Halbgeschoss einbeziehender Prunksaal mit reichen Rokoko-Stukkaturen, Wand- und Deckengemälden mit Kaiserbildnissen und der Hochzeit von Kana. Im Ostflügel gibt es eine unter dem Fürstabt von dem Velde angelegte Bildnisgalerie der Corveyer Äbte. Der heute als Barocksaal bezeichnete große Raum im Mitteltrakt, ein anderthalbgeschossiger Saal mit klar gegliedertem Wand- und Deckenstuck in zurückhaltenden Rocailleformen war früher das Refektorium, der klösterliche Speisesaal. Der ehemalige Wohnbereich des Abtes im Nordflügel wurde 1832 zur fürstlichen Bibliothek umgestaltet; sie ist eine der größten deutschen Privatbibliotheken des 19. Jahrhunderts.
Nur 100 Jahre etwa dauerte die klösterliche Nutzung der im Barock erstellten Konventsgebäude. Bereits 1792/94 erfolgte die Umwandlung der Fürstabtei Corvey in ein Bistum und 1803 die zweite, endgültige Säkularisation. Beide Ereignisse werden in späteren Beiträgen behandelt.
Henning Fischer
Literatur:
Friedrich K. Sagebiel, Baumeister in und um Corvey unter besonderer Berücksichtigung der Neuzeit. Detmold 1973.
Günter Tiggesbäumker / Peter Knaup, Corvey - Zeuge einer großen Vergangenheit. München, Berlin 2008.
Thema 38: Der Uffelnsche Hof – Corveyer Lehnshof und gescheiterte Porzellanmanufaktur
Der Uffelnsche Hof – Corveyer Lehnshof und gescheiterte Porzellanmanufaktur
Das höxtersche Amtsgericht, Möllingerstraße 8, ist in einem um 1600 erbauten Lehnshof des Klosters Corvey untergebracht. Die Geschichte des Hofes lässt sich bis in das Spätmittelalter zurückverfolgen, als das Corveyer Ministerialengeschlecht von Meingodessen, benannt nach Maygadessen bei Godelheim, mit ihm belehnt war. Eine Besiedlung des Geländes ist archäologisch seit dem 9. Jahrhundert nachzuweisen. 1476 gelangte der Hof an die mit den von Meingodessen verwandten von Niehausen und danach an Dietrich von Bocholtz, einen Verwandten des zu dieser Zeit amtierenden Abtes Reinhard von Bocholtz (1555-85). Namensgebend für den Hof wurde das Adelsgeschlecht von Uffeln aus Burguffeln, einem Stadtteil von Grebenstein im Landkreis Kassel. 1576 erhielt der vermögende hessische Feldmarschall Arnd von Uffeln den Hof als Lehen. Unter ihm oder seinem Bruder und Lehnsfolger (seit 1594) Hermann wurde das Anwesen im Stil der Renaissance umgebaut. Bis 1706 verblieb der Hof im Besitz ihrer Familie.
Der Uffelnsche Adelshof, das heutige Amtsgericht© Stadt Höxter
Der neue Lehnsnehmer war der Corveyer Kanzler Dr. jur. Bernhard Bogge. Nach seinem Tod 1733 übernahm sein Schwiegersohn und Corveyer Landeshauptmann Leopold Georg Friedrich von Sieghard den Hof. Es ist als besonderer Glücksfall anzusehen, dass sich aus dieser Zeit vier, erst kürzlich von Stadtarchivar Michael Koch entdeckte Zeichnungen des Adelshofes in den Staatsarchiven Münster und Wolfenbüttel erhalten haben. Sie zeigen das Anwesen vor seinem Umbau im frühen 19. Jahrhundert. Auf der abgebildeten Zeichnung werden unter anderem ein „Alte Haus“ (vorne links) und ein „Neuhaus“ (vorne rechts) ausgewiesen. Die beiden oberen, verputzten Fachwerkgeschosse des Alten Hauses wurden im Zuge des Umbaues abgetragen.
Nach von Sieghards Tod gelangte der Hof 1768 in Pfandbesitz des Corveyer Fürstabtes Philipp von Spiegel zum Desenberg (1758-76), der 1772 versuchte hier eine Porzellanmanufaktur einzurichten. Zu diesem Zweck wurde in dem „alten Sieghardschen Haus“ ein Brennofen errichtet, in dem nur ein einziger, vielversprechender Probebrand mit Kaffeegeschirr, Tellern, Schüsseln und Schreibgefäßen erfolgte. Die bei der Minoritenkirche gelegene Walkemühle wurde als Glasurmühle umgenutzt. Das Projekt scheiterte jedoch am Einspruch von Herzog Karl I. von Braunschweig-Lüneburg (1735-80), der für seine eigene, 1747 in Fürstenberg gegründete Porzellanmanufaktur keine Konkurrenz dulden mochte.
Ansicht des Uffelnschen bzw. Sieghardschen Hofes 1752 (Staatsarchiv Wolfenbüttel).© Stadt Höxter
Aus dieser kurzen Episode der Corveyer Porzellanherstellung haben sich keine Stücke erhalten oder sie schlummern unerkannt in privaten oder musealen Sammlungsbeständen. Bei einer 1989 durchgeführten Notgrabung auf dem ehemaligen Gartenareal des Adelshofes wurde an der Knochenbachstraße ein Gewölbekeller freigelegt, der im späteren 18. Jahrhundert aufgelassen worden war. In der Kellerverfüllung fanden sich zahlreiche Bruchstücke von irdenen Brennkapseln, in die das zu brennende Porzellan eingesetzt wurde, um Verunreinigungen der empfindlichen Glasur zu vermeiden.
Mit der Säkularisation gelangte das Anwesen 1803 an das Fürstentum Oranien-Nassau. Von 1808 bis 1815 beherbergte der ehemalige Lehns- und Adelshof die Unterpräfektur des französischen Königreiches Westphalen und anschließend bis 1827 das preußische Landratsamt. Seit dieser Zeit dienen die Gebäude als Gericht.
Andreas König, Stadtarchäologe
Literatur:
Michael Koch, Neu entdeckte Zeichnungen vom Uffelnschen Hof in Höxter aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert. Höxter-Corvey, September/Oktober 2013, S. 5-9, November/Dezember 2013, S. 5-10 (mit weiterführender Literatur)
Friedrich Karl Sagebiel, Hat es höxtersches Porzellan gegeben? Höxter-Corvey, Nr. 6 / Juni 1962
Thema 39: Die Fürstliche Bibliothek
Die Fürstliche Bibliothek
Die Fürstliche Bibliothek Corvey kann sich rühmen, zu den größten deutschen Privatbibliotheken zu gehören. Dabei handelt es sich um die Büchersammlung des Herzoglichen Hauses Ratibor und Corvey, dem heutigen Eigentümer von Schloss Corvey. Die Bibliothek hat ihren Ursprung in den rein weltlichen Büchersammlungen der Landgrafen von Hessen-Rotenburg, deren letzter Spross Viktor Amadeus die aus 36.000 Bänden bestehende Rotenburger Hofbibliothek zwischen 1825 und 1833 nach Corvey schaffen ließ. Damit kam nach den Plünderungen der monastischen Bibliotheken im Dreißigjährigen Krieg 1634 und nach der Säkularisation von 1803 wieder eine Bibliothek an die historische Stätte.
39-Fürstliche Bibliothek Corvey (Saal 13)© Stadt HöxterErbprinz Viktor zu Hohenlohe-Schillingsfürst, seit 1840 Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey, erbte 1834 mit Schloss Corvey auch die Bibliothek von seinem Onkel Viktor Amadeus und ließ diese vorwiegend durch August Heinrich Hoffmann von Fallersleben zwischen 1860 und 1874 auf den noch heute erhaltenen Umfang mit 74.000 Bänden erweitern. Die Fürstliche Bibliothek Corvey hat seit dieser Zeit keine nennenswerte Erweiterung mehr erfahren, sie ist ohne größere Verluste in einem weitgehend sehr guten Zustand erhalten. Mit ihrem einzigartigen Ensemble aus 200 Schränken des späten Klassizismus und Biedermeier sowie französischen Tapeten ist die Bibliothek ein Denkmal europäischer Buchkultur vornehmlich des 19. Jahrhunderts, ein historisches Dokument von höchstem Rang. Die historischen Räumlichkeiten wurden inzwischen restauriert, und alle 15 Säle können nun erstmals der Öffentlichkeit in ihrem ursprünglichen Zustand repräsentiert werden.
Die herausragende Bedeutung der Corveyer Büchersammlung liegt nicht nur in dem reichen Bestand an Unterhaltungsliteratur, sondern auch in der einzigartigen Sammlung an Pracht- und Ansichtenwerken aus verschiedenen Sachgebieten. Viele dieser Gattungen kamen zum einen wegen ihres oft sehr hohen Anschaffungspreises oder zum andern wegen ihres geringen Ansehens in vielen Fällen weder in Universitäts- noch in Adels- oder Bürgerbibliotheken als Sammelobjekte in Frage. Somit entstand in Schloss Corvey noch einmal das, was Goethe wehmütig mit dem 18. Jahrhundert vergangen glaubte: eine Bibliothek, die nicht nur eine „Vorratskammer“ oder „unnütze Gerümpelkammer“ für das „Anhäufen von Druckschriften“ war, sondern – im Innern wie im Äußeren – eine „wahre Schatzkammer“ der Kultur.
39-Fürstliche Bibliothek Corvey (Arbeitszimmer Hoffmann von Fallersleben)© Stadt HöxterDer Buchbestand war im vor-digitalen Zeitalter weitgehend unbekannt und wegen seines privaten Charakters nicht nutzbar. Zwischen 1986 und 1999 wurde die „Schatzkammer“ bibliothekarisch und wissenschaftlich erschlossen und der Benutzung zugeführt. Die Bände sind elektronisch verzeichnet und über einen OPAC (Online-Katalog – Sigle 110) im Internet recherchierbar. Seltene und wertvolle Werke des Bestandes sind zudem auf Mikrofiche und als digitale Medien für den allgemeinen Gebrauch zugänglich. Die wissenschaftliche Erschließung erfolgte bisher durch fünf Internationale Symposien, mehrere Examens- und Doktorarbeiten sowie zahlreiche Einzelbeiträge in nationalen und internationalen Zeitschriften. In der Reihe „Corvey-Studien“ (bisher 9 Bände) werden diese Forschungsergebnisse dokumentiert, darunter auch die Resultate der wissenschaftlichen Tagungen.
Die Fürstliche Bibliothek Corvey ist in jeder Beziehung auch ein Symbol für die Kontinuität nicht nur des geistigen Lebens in Corvey. Diese spiegelt sich im heutigen Buchbestand wider, denn der Germanist und Bibliothekar August Heinrich Hoffmann von Fallersleben hat mit dem Ankauf von Büchern aus den zwei Vorgängerbibliotheken im Jahre 1865, wie er es formulierte, „Corvey nach Corvey zurückgeholt“. Mit Büchern aus diesen drei Bibliotheken sind somit tausend Jahre „Corveyer Geistes- und Wissensgeschichte“ in der Fürstlichen Bibliothek vereint. Daher wurde die Fürstliche Bibliothek Corvey 1987 in die Denkmalliste des Landes Nordrhein-Westfalen eingetragen, womit sie zum „National schützenswerten Kulturgut“ gehört.
Dr. Günter Tiggesbäumker
Thema 40: Grenzen und Grenzsteine des Corveyer Landes
Grenzen und Grenzsteine des Corveyer Landes -
Um dem Streit vorzubeugen ...
Heute ist ein Staat ohne einen festen Grenzverlauf undenkbar. Was schon die Römer am Rand ihres Imperiums nutzten, etwa in Gestalt des süddeutschen Limes, war bei den Germanen ganz ungewohnt. Die ältere Vorstellung von einer Grenze ging von einem bewaldeten Grenzraum aus. So findet sich an der oberen Weser zwischen Hannoversch-Münden und Uslar der Bramwald, was Grenzwald bedeutet. Die ältesten festen Grenzen stellen hier die um 800 eingerichteten Bistumsgrenzen dar.
Mit der Rodung von Siedlungs- und landwirtschaftlicher Nutzfläche stieß man in der Altsiedellandschaft des Wesertals schon im frühen Mittelalter an landschaftliche Grenzen. Die „marca Hucxori“, die 823 Kaiser Ludwig der Fromme der Abtei Corvey übertrug, reichte von Albaxen im Norden bis Godelheim und Maygadessen im Süden, von Brenkhausen im Westen bis zur Weser im Osten. Selbst wenn keine genaueren Angaben gemacht wurden, so weist der Begriff der Mark oder Gemarkung doch bereits auf Markierungen hin, mit deren Hilfe an eine Grenze (Grenzraum) erinnert wurde. Die Grenze folgte einem Höhenzug oder einem Fluss oder Bach. Markierungen wurden an Schnatbäumen[1] angebracht, die langlebig, aber dennoch vergänglich waren.
40-Grenzsteine© Stadt HöxterMit der fortschreitenden Rodung des hohen und späten Mittelalters stieß man auch abseits der Gunsträume auf die Grenzen der Kulturlandschaft. In dieser Zeit setzte erneut die Rezeption des römischen Rechts im Staatsrecht ein, und man begann zunehmend feste Grenzen anzulegen. Parallel wurde das altdeutsche Wort „marca“ durch das von dem polnischen Wort „granica“ entlehnte Wort Grenze ersetzt. Um die Gemarkung der Stadt Höxter wurden seit der Mitte des 14. Jahrhunderts Landwehren als Wall-Graben-Anlagen angelegt, die zur Abwehr von Wild und Räubern, aber auch als territoriale Grenze dienten. Der umhegte Raum besaß in etwa dieselben Ausmaße, wie sie bereits die „marca Hucxori“ hatte. Immer wieder mussten Grenzbegehungen durchgeführt werden, um den richtigen Grenzverlauf im Gedächtnis der Einheimischen zu bewahren.
Etwas später als die städtische Landwehr um Höxter sind feste Corveyer Landesgrenzen überliefert. Dazu gehört z. B. der Landknick, den der Paderborner Bischof Dietrich von Moers ab 1429 zwischen Borgentreich und Schwalenberg anlegen ließ und der das Paderborner vom Corveyer Land trennte. Eine Grenzziehung zwischen Pyrmont und Lippe 1463 berührte die Grenze am Köterberg zwischen Schwalenberg und Corvey und auch mit dem Amt Polle (Herzogtum Braunschweig-Calenberg) entlang dem alten Weg nach Stahle. Johann Gigas hielt auf seiner Karte des Corveyer Landes von 1620 einen Zustand fest, der sich bis um 1500 herausgebildet hatte.
40-Gigas-Karte© Stadt HöxterIm Laufe der frühen Neuzeit und bis ins 19. Jahrhundert hinein bemühte man sich, Grenzen zu „vermalsteinen“, d. h. Grenzbäume durch länger haltbare Mal- oder Schnatsteine zu ersetzen. Um den korrekten Standort auch beweisen zu können, legte man prägnante Objekte wie Münzen oder Glasscherben unter den Grenzstein. Grenzsteine im Umfeld der Fürstabtei Corvey lassen sich zuerst im ausgehenden 16. Jahrhundert nachweisen. Bis heute haben sich frühe Exemplare an der Corveyer Territorialgrenze im Norden und am Corveyer Weidebezirk im Solling erhalten. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte schritt man wiederholt zu Steinsetzungen, so etwa 1698 am Brückfeld (SV = Sanctus Vitus, BLW = Braunschweiger Land, Wolfenbütteler Teil) oder 1839 an der preußisch-braunschweigischen Grenzen (P = Corvey/Preußen, B = Braunschweig).
Michael Koch, Stadtarchivar
Literatur (Auswahl):
Gerhard Aumüller, Die Karten des hessischen Landmessers Joist Moers zum Grenzstreit zwischen dem Kloster Corvey und dem Amt Polle (1586/88). In: Jahrbuch für den Landkreis Holzminden 15/16, 1997/98 (1996), S. 11-20.
Dieter Siebeck, Die Versteinung der preußisch-braunschweigischen Grenze von 1839. In: Die Warte 71, Weihnachten 2010, Nr. 148, S. 33-39.
[1] „Schnat“ leitet sich von „schneiden“ her.
Thema 41: Das Dreizehnlindenhaus
Das Dreizehnlindenhaus
Gegen Ende des alten Reiches wurde die Reichsabtei Corvey säkularisiert und von einem Mönchskloster in ein Domstift umgewandelt. Von 1792 bis 1803 währte die kurze Phase, in welcher Corvey ein Fürstbistum war; bis zum Tode des zweiten Bischofs Ferdinand von Lüninck 1825 bestand das Bistum Corvey.
Das deutlichste bauliche Zeichen, welches noch heute von dieser Zeit Zeugnis gibt, ist das Gebäude des Dreizehnlindenhauses. Unter Fürstbischof Ferdinand von Lüninck wurde es 1794/95 kurz nach der ersten Säkularisation errichtet.
Das Gasthaus Ende des 19. Jahrhunderts mit Blick auf das Schloss Corvey. Über dem Haupteingang ist der bauzeitliche Balkon noch vorhanden. Foto: Georg Gotthardt© Stadt HöxterDieses zweistöckig verzimmerte, verputzte Fachwerkgebäude mit ausgebautem, Sandstein gedecktem Mansarddach und einer großflächigen Gewölbeunterkellerung befindet sich am Ende der Corveyer Allee an ihrer südlichen Seite unmittelbar vor der Toranlage Corveys und hat bereits von seiner Lage her eine hohe Bedeutung und Signalwirkung.
Dieser repräsentative Bau wurde zunächst „Neuer Krug“ genannt. Einen „Alten Krug“ gab es schon seit 1743, gegenüber an der nördlichen Straßenseite, welcher dann 1845 abgebrochen, aber in den frühen 1990er Jahren durch archäologische Grabungen nachgewiesen und erforscht wurde.
Später folgten Bezeichnungen wie „Neuer Corveyscher Hof“ und „Westfälischer Hof“. Erst 1907 kam es in Erinnerung an das bekannte, sich mit Corvey beschäftigende Versepos „Dreizehnlinden“ von Friedrich Wilhelm Weber zu dem seitdem gebräuchlichen „Dreizehnlindenhaus“.
Mit seinen über 1000 m² Nutzfläche kam das Gebäude in den ersten Jahrzehnten verschiedenen Zwecken nach.
Mit sechs Gästeappartements, Gemeinschaftsräumen, dem örtlichen Ausschank von Wein und einem öffentlichen Weinhandel diente es der Unterbringung und Verpflegung von höhergestellten Besuchern Corveys und dem festlichen Empfang von Gästen des Fürstbischofs. Den Corveyer Domherren wurden Aufenthaltsmöglichkeiten und Zeitvertreib („Casino“) gewährt, und für ein im Kloster eingerichtetes Priesterseminar mussten Räumlichkeiten zur Verpflegung dieser Geistlichen vorgehalten werden.
Das Haus nach seiner Umbenennung als „Dreizehnlindenhaus“, geschmückt für einen Besuch des Kaisers in Corvey 1907. Foto: Georg Gotthardt© Stadt HöxterHierzu wurden großzügige Räume mit einer gehobenen Ausstattung und Möblierung geschaffen. Es gab Wandfassungen und Spiegelflächen. Ein Verzeichnis der Güter des „Corveyischen neuen Gasthoff“ von 1795 gibt Auskunft über Umfang und Qualität der Einrichtung: Es waren wertvolle Spiegel, Kronleuchter und Wandleuchter vorhanden, verschiedene Möbel, u. a. Spiel-, Marmor-, Spiegel- und Billardtische. Selbst Details zum Bestand an Silberbestecken und Porzellangeschirr sind aufgelistet. Auch die sanitären Anlagen waren für damalige Verhältnisse luxuriös gestaltet: Die Gebäuderückseite wies einen durch einen Giebel bekrönten Vorbau auf, in dem für jedes Geschoss getrennt innere Toiletten untergebracht waren. Eine Beheizung mit mindestens 18 Öfen gewährleistete einen ganzjährigen Betrieb des Dreizehnlindenhauses.
Der großflächige Kellerraum unter der vorderen Haushälfte, durch ein weit gespanntes Gewölbe überdeckt, war für die Lagerung des Corveyer Weinhandels eingerichtet und über zwei Treppen mit dem Gasthausbetrieb verbunden.
Durch die zweite Säkularisierung 1803 verlor das Gebäude wegen des entfallenden Priesterseminars bereits wenige Jahre nach seiner Entstehung einen wesentlichen Bestandteil seiner Nutzung. Die nachfolgend wechselhafte Geschichte des Dreizehnlindenhauses wurde von vielen Pächtern bestimmt, die bis 1942 vorwiegend Beherbergungs- und Gastronomienutzungen verfolgten. Danach richtete man Landarbeiterwohnungen und später Studentenzimmer im Gebäude ein.
Für die Schloss- und Klosteranlage von Corvey stellt das Dreizehnlindenhaus gleichsam das Eingangsgebäude dar. Es flankiert städtebaulich die nach Corvey führende Allee. Wegen seiner baugeschichtlichen Bedeutung als einer der besterhaltenen frühen Hotelbauten Deutschlands und des kirchengeschichtlichen Zeugniswertes kommt ihm ein besonderer Denkmalrang zu.
Henning Fischer
Literatur:
Fred Kaspar, Corvey wird zum Bistum erhoben und lässt deswegen ein Casino-Hotel errichten! Das „Dreizehnlindenhaus“ vor Corvey. In: Westfalen 89., 2011, S. 203-228
Thema 42: Bistumsgründung
Säkularisation vor der Säkularisation: Die Umwandlung vom Kloster zum Bistum Corvey
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts veränderte sich die politische Ordnung im Reich grundlegend. Unter dem Einfluss von Aufklärung, modernem Staatsdenken und Naturrechtsideen strebten Kaiser und Fürsten danach, das Reich und die mit ihm verbundene Reichskirche ihrem neuen Herrschaftsverständnis unterzuordnen. Die Regierungen der deutschen Staaten, allen voran Österreich und Preußen, drängten auf Expansion, wobei besonders auf den Erwerb geistlicher Territorien abgezielt wurde.
Die Säkularisation vom Mönchskloster zum Bistum bzw. vom Nieder- zum Hochstift schien Abt und Konvent als ein wirksames Mittel, um Corveys adlige Grundordnung und seine staatliche Eigenständigkeit im Reich wahren können. 1779 hatte der Bischof von Paderborn endlich die territoriale und kirchliche Eigenständigkeit Corveys anerkannt und 1783 war die Abteikirche vom Papst zur Kathedrale erhoben worden. Die Abtei wurde jedoch von Nachwuchssorgen bedrückt: 1784 waren es nur noch 16, 1791 zwölf Mönche, von denen drei in Brenkhausen, Marsberg und Meppen tätig und sechs durch Krankheit und Alter außerstande waren, Dienste zu übernehmen. Da zu befürchten stand, dass die Mönche ihren geistlichen Aufgaben nicht mehr nachkommen konnten, gründete Fürstabt Theodor von Brabeck 1786 ein Priesterseminar.
Über den Kölner Nuntius beantragte der Fürstabt 1787 die päpstliche Genehmigung und bemühte sich anschließend um die kaiserliche Zustimmung. Doch es war viel Geduld erforderlich und es sollten noch einige Jahre mit langwierigen Verhandlungen u. a. in Rom und Wien vergehen. Misstrauisch wurden die Vorgänge auch von den beiden Schutzmächten Hessen-Kassel und Kurhannover beobachtet, die ihre Rechtsansprüche bedroht sahen. Vom 23. April 1792 datiert schließlich die päpstliche Bulle, die die Umwandlung der Benediktinerabtei in ein Bistum in der Kirchenprovinz Mainz aussprach. Nach der kaiserlichen Bestätigung im November 1793 fanden vom 18. bis 20. Februar 1794 in Corvey die Feierlichkeiten zur Veröffentlichung statt. Prior Carl Alexander (Warinus) von Schade wurde Domdechant, die übrigen Mönche nach ihrer Entbindung vom Ordensgelübde Domkapitulare.
Ferdinand-von-Lüninck© Stadt Höxter
Theodor-von-Brabeck© Stadt HöxterIn Statuten wurde u. a. die Aufnahme eines Kandidaten in das Kapitel geregelt: Er musste eine ritterbürtige Herkunft durch Nachweis von 16 Ahnen vorweisen, mindestens 23 Jahre alt und gesund sein und ein Theologiestudium abgeschlossen haben, das binnen neun Monaten zum Empfang der Priesterweihe befähigte. Das Priesterseminar wurde mit dem Kapitel im Konventsgebäude untergebracht. Ausdrücklich wurde erklärt, dass die Umwandlung nicht dazu diente, „Überfluss und weichliches Leben zu suchen“, sondern dem Erhalt der „Fundation, welche schon solange gestanden.“ Die Weihe Theodor von Brabecks zum Fürstbischof fand am 1. Juni 1794 statt. Bald darauf verstarb er. Sein Nachfolger wurde Ferdinand von Lüninck, der sich zuvor erfolgreich in Rom und Wien für Corvey eingesetzt hatte.
Die Landesregierung setzte sich jetzt aus dem Fürstbischof, dem Domkapitel und den Landständen zusammen. Der Fürstbischof allein übte die gesetzgebende Gewalt aus. Wie zuvor bildete die ihm direkt unterstehende Geheime Kanzlei das oberste Justizkollegium. Die Regierung oder Kanzlei, der Domkapitular Ludwig (Ludovicus) von Bendeleben als Präsident vorstand, war nur für Justiz- und Polizeisachen zuständig, die Hof- und Rentkammer verwaltete die fürstlichen Domänen und Kameraleinkünfte. Die Landstände stellten die politische Vertretung des Corveyer Landes dar und wurden im Bedarfsfall vom Landesfürsten zusammengerufen. Sie bestanden aus der Ritterschaft und jeweils einem Vertreter der Stadt Höxter und des Klosters Brenkhausen. Das Generalvikariat wurde vom Domdechanten versehen. Es war für geistliche Angelegenheiten der katholischen Landsassen und Stadtbürger zuständig, bei Streitigkeiten zwischen Angehörigen unterschiedlicher Konfession oder unter evangelischen Landsassen und Bürgern wurden die evangelischen Stadtgeistlichen hinzugezogen.
Michael Koch, Stadtarchiv
Literatur:
Georg Föllinger, Corvey – Von der Reichsabtei zum Fürstbistum. Die Säkularisation der exemten reichsunmittelbaren Benediktiner-Abtei Corvey und die Gründung des Bistums 1786-1794. (Paderborner Theologische Studien, Bd. 7) München, Paderborn, Wien 1978.
## Abbildungsbeschriftung ##
Theodor von Brabeck, Fürstabt 1776-94 und erster Fürstbischof 1794, und Ferdinand von Lüninck, zweiter Fürstbischof 1794-1803, Gemäldegalerie Schloss Corvey. Foto: Peter Knaup / Kulturkreis Höxter-Corvey gGmbH.
Thema 43: Garten- und Parkanlagen von Kloster Corvey
Garten- und Parkanlagen von Kloster CorveyKlosterplan (um 1800) mit Abtsgarten links und Konventsgarten oberhalb von Schloss und Domäne/ Fürstliche Bibliothek Corvey© Stadt HöxterGärten und der Anbau von Gemüse, Kräutern und Obst bildeten eine wesentliche Grundlage für die Ernährung und Gesundheit einer Klostergemeinschaft. Für die Frühzeit von Kloster Corvey kann die Ordnung für das Corveyer Mutterkloster Corbie (822) herangezogen werden, die von dem dortigen Abt und zugleich ersten Abt von Corvey Adalhard eingeführt wurde. Sie berücksichtigt neben dem Kräutergarten innerhalb vor allem den außerhalb der Klostermauern betriebenen Gartenbau. Einen anschaulichen Eindruck vom Gartenbau der Karolingerzeit vermitteln darüber hinaus der St. Gallener Klosterplan (um 820) und das „Buch über die Gartenpflege“ des Reichenauer Abtes Walahfrid Strabo (840). Mit Sicherheit gab es also auch in Corvey von Anfang an Nutzgärten zur Versorgung der Klosterangehörigen. Anhand der Untersuchung von Pflanzenresten lässt sich der karolingerzeitliche Anbau mehrerer Kulturobstarten, darunter die Süß- und Sauerkirsche, die Pflaume und der Pfirsich, bestätigen. Nachweise von kultivierten Gemüse-, Gewürz- und Heilpflanzen fehlen bisher. Im Bereich der Stadt Corvey konnten für das hohe Mittelalter neben unterschiedlichen Getreidearten und Lein auch Hülsenfrüchte (Linse, Erbse, Ackerbohne) nachgewiesen werden.
Weitet sich der Blick auf das weitere Umfeld des Klosters, so lässt sich in der Stadt Höxter der mittelalterliche Anbau von Gemüse und Salatpflanzen (Portulak, Kohl, Rüben uvm.), Hülsenfrüchten, Kulturobst (auch Maulbeere, Weintraube), Ölpflanzen sowie Gewürzen, Kräutern und Heilpflanzen (Dill, Kümmel, Senf, Thymian uvm.) nachweisen. Um 1200 wurde auf Betreiben des Abtes ein Weingarten am Bielenberg westlich vor Höxter angelegt. Nachrichten über vorbarockzeitliche Gartenanlagen in Corvey liegen bisher nur sehr vereinzelt vor. Der Chronist Johannes Letzner (1604) berichtet, dass nach dem Abtragen der verfallenen Pfalzgebäude südlich der Klosterkirche einige Stiftsherren hier Kräutergärten bewirtschafteten. Später wurde dieser Bereich als „Konventsgarten“ bezeichnet. Demgegenüber lag der „Abtsgarten“ im Norden zwischen dem ehemaligen Kloster- und dem Corveyer Stadtgraben („Hechtgraben“).
Erst mit der Zeit des barocken Wiederaufbaus liegen Nachrichten über die Gestalt von Garten- und Parkanlagen inner- und außerhalb des Corveyer Klosterareals vor. Nach bisherigen Erkenntnissen ließ Fürstabt Florenz von dem Velde (1696-1714) den „Abtsgarten“ auf einer Fläche von rund sechs Hektar anlegen. Indem die Klostermauern im Westen und Osten nach Norden verlängert und der ehemalige Corveyer Stadtwall und Stadtgraben mit einbezogen wurden, entstand der Eindruck, als ob dieser Bereich immer schon zum Klosterareal gehört hätte. In der Nordwestecke wurde 1741 ein festes Gartenhaus („Teehaus“) errichtet. Westlich vor dem Kloster bestanden Nutzgärten. Im Weserbogen wurde 1672 die „Plantage“ angelegt, die eine Fläche von etwa drei Hektar Größe besaß. Die Anlage war von Mauern umgeben und von einem rechtwinkligen und diagonalen Wegenetz gegliedert. In den Nordecken und wohl auch im Zentrum standen Pavillons. 1680 wurde am Räuschenberg mit einem Weinberg begonnen (siehe Beitrag 36).
Blick über die zentrale Grünfläche auf Schloss Corvey© Stadt HöxterNoch in der Zeit der Fürstbischöfe von Corvey ist von einem barocken Lustgarten „im holländischen Geschmack“ die Rede (1794), der vollständig von Wassergräben bzw. der Weser umfangen wurde. Entweder Fürstbischof von Lüninck oder erst die weltlichen Herren nach der Säkularisation von 1803 ließen den mittleren Gartenbereich vor dem Nordflügel in einen Landschaftsgarten nach englischem Vorbild umgestalten. Bei dem Plan von Landbaumeister Heinrich Eberhard (1808) und mehreren mutmaßlichen Entwürfen aus dem frühen 19. Jahrhundert wird eine große, offene Rasenfläche dargestellt, die von Gehölzbeständen mit unregelmäßig geformten Wegeführungen flankiert wird. 1959 erfolgte die Umformung zu den heutigen zickzackförmigen Wegen durch den bekannten Landschaftsarchitekten Hermann Mattern. Die westlich und östlich anschließenden Bereiche blieben in ihrer barocken Grundform erhalten und wurden, wie u. a. Hoffmann von Fallersleben in seiner Corveyer Zeit (1860-1874) bezeugt, als Gemüsegarten genutzt. Der mittlere „Abtsgarten“ mit seinem Baumbestand des frühen 19. Jahrhunderts ist zu bedeutenden Teilen bis heute erhalten, sein östlicher Bereich wurde jüngst wieder als Obstbaumgarten eingerichtet.
Henning Fischer, Michael Koch
Literatur:
Thomas Bufe, Gartenreise. Ein Führer durch Gärten und Parks in Ostwestfalen-Lippe. Münster 2000.
Thema 44: Die Säkularisationszeit
Die SäkularisationszeitWilh.-Friedr.-von Nassau-Oranien© Stadt HöxterDie Umwandlung in ein Bistum 1792/94 (siehe Beitrag 42) sollte das Corveyer Staatswesen nur etwa ein Jahrzehnt vor der Auflösung bewahren. Im Verlauf der Kriege Napoleon Bonapartes um die Vorherrschaft in Europa kam es wiederholt zu Verhandlungen über die Entschädigung weltlicher Fürsten für kriegsbedingte Besitzverluste. Am 23. Mai 1802 wurde eine Vereinbarung zwischen Preußen und Frankreich getroffen, die das Fürstbistum Corvey, das Fürstbistum Fulda, die Reichsstadt Dortmund und die Reichsabtei Weingarten für Oranien-Nassau reservierte. Durch den Hauptschluss der außerordentlichen Reichsdeputation auf dem Reichstag zu Regensburg vom 25. Februar 1803 wurden die Säkularisationen, die vor allem zu Lasten der geistlichen Fürsten gingen, sanktioniert.
Das Fürstbistum Corvey bildete um 1800 ein Staatsgebilde mit einem geschlossenen Territorium von nur rund 190 km2 an der oberen Weser sowie einigen kleinen Exklaven im Nordwesten von Deutschland. Nach dem Erlass zur Inbesitznahme vom 25. August 1802, der Veröffentlichung des Besitzergreifungspatents am 2. Oktober und dem Widerstreben von Fürstbischof Ferdinand von Lüninck besetzte ein preußisches Militärkommando Corvey. An öffentlichen Plätzen wurde das oranien-nassauische Wappen aufgehängt und das Patent angeschlagen. Die Inbesitznahme erfolgte im Namen des Prinzen Wilhelm Friedrich von Oranien-Nassau (1772-1843), der mit einer Schwester des Königs von Preußen verheiratet war. Von seiner neuen Residenz Fulda aus lenkte er die Regierung in Höxter. Regierungsdirektoren waren der Geheime Rat J.H. von Erath und Freiherr Georg von Porbeck (1766-1837).
Schon am 24. Januar 1803 hatte von Erath das Domkapitel für aufgelöst erklärt und die Kathedrale zur Pfarrkirche zurückgestuft. Die Regalien, Domänen und weiteren Besitzungen fielen an den neuen Landesherrn. Garantiert blieben das Recht auf freie Religionsausübung und der Besitzstand der Pfarreien. Die Klöster der Benediktinerinnen in Brenkhausen und der Minoriten in Höxter wurden bis zum April bzw. Juni inventarisiert und aufgehoben. Die Mitglieder des Domkapitels wurden zügig mit Pensionen abgefunden. Mit Ferdinand von Lüninck verglich man sich erst am 16. Juli 1803. Er blieb auf Lebenszeit in seinem Rang als Reichsfürst und geistliches Oberhaupt im Bistum Corvey. Am 25. Juli erfolgte die feierliche Huldigung gegenüber dem neuen Landesherrn in Corvey.
Code Napoleon© Stadt HöxterDer nächste Umbruch zeichnete sich mit der Gründung des Rheinbundes im Juli 1806 und der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. am 6. August ab. Um dem Diktat Napoleons zu entgehen, verbündete sich Preußen mit Russland, doch der erneut einsetzende Krieg endete für Preußen schon am 14. Oktober 1806 mit der Niederlage bei Jena und Auerstedt. Der Fürst von Oranien-Nassau geriet als preußischer Kommandeur in Gefangenschaft und verlor seine Herrschaft. Corvey fiel an das Kaiserreich Frankreich. Mit der Gründung des Königreichs Westphalen am 18. August 1807 wurde die Verwaltung neu gegliedert. Das Corveyer Land wurde auf die Kantone Höxter, Albaxen und Beverungen aufgeteilt und bildete einen Teil des Distriktes Höxter. Das neue Königreich war wie das benachbarte Großherzogtum Berg ein von Napoleon geschaffener Modellstaat, der die Überlegenheit der napoleonischen Reformpolitik demonstrieren sollte.
Die Verfassung vom 7. Dezember 1807 sah eine egalitäre und freiheitliche Gesellschaftsordnung im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie vor. Die Verwaltung war ausgerichtet nach den Grundsätzen der Zweckmäßigkeit und Effektivität, auf historisch gewachsene Strukturen wurde wenig Rücksicht genommen. Die anfängliche Akzeptanz durch die Bevölkerung wandelte sich angesichts der rigiden Mobilisierung aller ökonomischen und militärischen Ressourcen bald in Ablehnung. Im Herbst 1813 führte die Niederlage Napoleons in der „Völkerschlacht“ bei Leipzig zum Zusammenbruch des Imperiums. Das Gebiet des vormaligen Fürstentums Corvey wurde Teil der preußischen Provinz Westfalen, die Kantone wurden in Ämter überführt und die Stadt Höxter wurde Kreishauptstadt. Bestätigt wurde die staatliche Neuordnung in Europa durch den Wiener Kongress 1814/15.
Michael Koch, Stadtarchiv
Literatur:
Wilhelm Grabe, Markus Moors (Hrsg.), Neue Herren – neue Zeiten? Quellen zur Übergangszeit 1802 bis 1816 im Paderborner und Corveyer Land. Paderborn 2006.
Michael Koch, Verfassungswandel und Reformimpulse im Fürstentum Corvey [...].
In: „Wachse hoch, Oranien!“ Auf dem Weg zum ersten König der Niederlande: Wilhelm Friedrich Prinz von Oranien-Nassau als regierender Fürst 1802-1806 [...]. Münster 2013, S. 153-176.
Bilderklärung:
Wilhelm Friedrich von Oranien-Nassau als König der Niederlande (1815-1840).
Aus: Klostersturm und Fürstenrevolution. Staat und Kirche zwischen Rhein und Weser 1794/1803, 2003, S. 155.
1807 wurde der Code Napoleon (Code Civil) im Königreich Westphalen als Vorläufer des Bürgerlichen Gesetzbuches eingeführt. Übersetzung ins Deutsche, Stadtarchiv Höxter.
Thema 45: Ratibor
Das Herzogliche Haus Ratibor und Corvey
Mit dem „Reichsdeputationshauptschluss“ und dem Ende des „Alten Reiches“ (1803/1806) begann für das Fürstentum Corvey eine unruhige Zeit mit durchgreifenden Veränderungen. Dieses betraf auch den seiner weltlichen Macht enthobenem Fürstbischof Ferdinand von Lüninck († 1825), denn schließlich bevölkerten nacheinander drei weltliche Herren mit ihrer Entourage nicht nur seine Residenz, sondern hielten auch die wichtigen Schaltstellen der Administration besetzt. Fast 20 Jahre später und nach mehrmaligem Regierungswechsel übergab der höxtersche Landrat Philipp Freiherr von Wolff-Metternich am 24. Juni 1820 im Auftrag der preußischen Regierung das Corveyer Schloss mit seinem Grundbesitz an den Landgrafen Viktor Amadeus von Hessen-Rotenburg. Bereits am 11. März hatte der Landgraf die Verwaltung seinem Schwager Fürst Franz zu Hohenlohe-Schillingsfürst angetragen: „Solltest Du in Schillingsfürst nicht bleiben wollen, so steht Dir die Administration von Corvey zu Dienst, in wessen Besitz ich noch dieses Frühjahr zu seyn hoffe.“
Viktor I. Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey© Stadt HöxterDer Landgraf gehörte zu den entschädigungsberechtigten Fürsten nach dem „Wiener Kongress“, und ihm wurde zu Beginn des Jahres 1817 eine „Allodial Herrschaft von 20.000 Thalern“ zugestanden, das Herzogtum Ratibor in Oberschlesien und das Fürstentum Corvey in Westfalen. Hiermit wurde der Grundstein zu den heutigen Eigentumsverhältnissen von Schloss Corvey gelegt. In seinem Testament vom 9. November 1825 setzte Landgraf Viktor Amadeus seinen Neffen, den Erbprinzen Viktor zu Hohenlohe-Schillingsfürst, zum Erben seiner außerhessischen Besitzungen ein: „Zum Universalerben meines ganzen Allodialvermögens ernenne ich hiermit meinen Pathen den Prinzen Victor von Hohenlohe-Schillingsfürst. Er soll bei des Königs von Preußen Majestät um den Titel als Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey nachsuchen und sich alsdann blos so tituliren und den Nahmen Hohenlohe gänzlich ablegen.“ Als Landgraf Viktor Amadeus am 12. November 1834 starb, wurde Schloss Corvey zum regelmäßigen Aufenthaltsort der Familie Hohenlohe-Schillingsfürst. Neun Kinder – fünf Söhne und vier Töchter – wuchsen hier bei den Eltern auf. So heißt es in den Aufzeichnungen des Prinzen Chlodwig im Herbst 1834: „Ankunft der ganzen Familie auf dem Neuerbe.“
Nachdem sein Sohn Viktor die Volljährigkeit erlangt hatte, richtete Fürst Franz am 5. Oktober 1840 ein Gesuch an den König von Preußen: „Allerdurchlauchtigst-Großmächtigster König wollen geruhen, meinem Sohne dem Prinzen Victor als erstem Majoratsbesitzer von Ratibor und Corvey, den Titel ‚Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey‘ allergnädigst zu verleihen.“ Daraufhin wurde am 15. Oktober 1840 anlässlich der Erbhuldigung für König Friedrich-Wilhelm IV. von Preußen in Berlin bekannt geben: „Sr. Majestät der König haben geruht, die Herrschaft Corvey zu einem Mediat-Fürstenthume zu ernennen und zu erheben und dem Prinzen Victor zu Hohenlohe-Schillingsfürst-Waldenburg als ersten Majorats-Besitzer von Ratibor und Corvey den Titel Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey zu verleihen.“
Wappen Ratibor© Stadt HöxterDieses war die Geburtsstunde der heutigen Familie, dem „ersten (herzoglichen) Haus des zweiten Zweiges vom ersten Ast des Gesamthauses Hohenlohe“ (so das Genealogische Taschenbuch). Der junge Herzog Viktor I. (1818-1893) hielt am 3. November 1840 unter großer Anteilnahme der Bevölkerung Einzug im oberschlesischen Rauden, wo er und seine Familie von nun an dauernden Wohnsitz nahmen. Die Empfangsfeierlichkeiten in Corvey fanden erst Ende Mai 1845 statt, nachdem Herzog Viktor Prinzessin Amélie zu Fürstenberg geheiratet hatte. In Schloss Corvey hielten sich der Herzog und seine Familie allerdings nur äußerst selten auf.
Seit nunmehr genau 180 Jahren befindet sich die ehemalige Reichsabtei Corvey im Besitz dieser Familie, die in fünfter Generation die Verantwortung für die große Schlossanlage in Händen trägt. Es ist dem Herzoglichen Haus seit jeher Anliegen gewesen, das Erbe der Benediktiner in würdiger Art und Weise zu pflegen, zu erhalten und die Erinnerung an die bewegte Geschichte dieses Ortes auch für die kommenden Generationen wachzuhalten.
Dr. Günter Tiggesbäumker
Abbildungstexte:
Viktor I. Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey, „Stammvater“ des Herzoglichen Hauses. Porträt in Öl von Richard Lauchert, um 1845. Foto: Herzog von Ratibor
Wappen des Herzoglichen Hauses Ratibor und Corvey, verliehen vom Königlichen Heroldsamt Berlin. Federzeichnung aquarelliert, 1840. Foto: Herzog von Ratibor
Thema 46: Paul Wigand
Paul Wigand in Höxter und Corvey
Paul Wigand, abgedruckt in Westfälische Zeitschrift 72/II, 1914.© Stadt HöxterDass wir heute so gut über die Geschichte Corveys informiert sind, ist in mehrfacher Hinsicht dem Friedensrichter Paul Wigand zu verdanken. Er hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts, nach der Säkularisation des Klosters dafür gesorgt, dass die Bibliotheks- wie Archivbestände der früheren Reichsabtei geordnet und aufgezeichnet wurden. Und er war Zeit seines Lebens darum bemüht, die nach der Aufhebung des Klosters in verschiedene Hände übergegangenen Bestände der Bibliothek wieder zusammenzuführen.
Der 1786 in Kassel als Sohn des dortigen Hofarchivars geborene Paul Wigand begann 1803 in Marburg das Studium der Rechte. Während dieser Zeit baute er eine intensive Freundschaft zu den Brüdern Wilhelm und Jacob Grimm auf, die lebenslang hielt. 1805 übernahm Wigand in Kassel die Redaktion der Kurhessischen Zeitung. Als die Franzosen 1807 Kassel besetzen, wurde Wigand von der Zeitungsarbeit entbunden. Nun begann seine juristische Laufbahn. Am 31. Dezember 1808 wurde er durch den in Kassel residierenden König Jérome Bonaparte als Friedensrichter nach Höxter versetzt. Für 25 Jahre sollte Höxter nun seine neue Heimat werden. Denn auch nach dem französischen Intermezzo wurde er als Assessor beim Land- und Stadtgericht Höxter von der preußischen Regierung übernommen.
Angeregt durch Studienkontakte in Marburg hatte Wigand bereits reges Interesse für die Geschichtsschreibung entwickelt. 1812 erhielt er den offiziellen Auftrag, Teile der Corveyer Bibliothek nach Marburg zu versenden, um sie dort für Studienzwecke an der Universität zu nutzen. Im Jahre 1803 hatte der damalige Corveyer Bibliothekar, Dechant Campill, folgenden Bestand ermittelt: 12.000 Bände, darunter 109 Handschriften und gut 200 Inkunabeln. Bereits 1806 waren etliche Bücher aus Corvey nach Fulda abgegeben worden. Zugleich erhielt Wigand den Auftrag der Universität Marburg sowie auch später der Universität Bonn, die Bibliotheksbestände Corveys zu sichten und zu ordnen. In diese Arbeit stürzte er sich mit enormem Eifer. Dabei hatte er sich zum Ziel gesetzt, die Geschichte Corveys aufzuarbeiten und zu publizieren. All diese Tätigkeiten für Corvey übte er jedoch zunächst ehrenamtlich neben seiner Richtertätigkeit aus. Erst 1821 erhielt er nach mehreren vergeblichen Anläufen vom preußischen Staatskanzler den offiziellen Auftrag, die Archive Corveys, Herfords und die Stiftsarchive des oberwaldischen Kreises mit Warburg, Dringenberg, Neuenheerse, Marienmünster und Herstelle zu ordnen und zu bearbeiten. Hierfür wurde er zeitweise vom Richterdienst freigestellt. In dieser Zeit gelangen ihm grundlegende Arbeiten zum Corveyer Archiv und die Wiederherstellung des im Zuge der Säkularisation verloren gegangenen Urkundenarchivs.
Eine besondere Sorge bereitete ihm die Unterbringung der Archivbestände. Ursprünglich wollte Wigand das Archiv in seine Privaträume im Amelunxborner Hof in der Rodewiekstraße bringen lassen. Doch das wurde abgelehnt. Schließlich erhielt er die sogenannte Bierkammer im Historischen Rathaus, die allerdings ungeeignet war, da Mäuse die Archivbestände angriffen. Am 5. Januar 1825 vermeldete Wigand den ordnungsgemäßen Aufbau des Corveyer Archivs. Allerdings hatte er zu dieser Zeit auch etwa ein Drittel des Corveyer Archivbestandes vernichten lassen, da er keine Möglichkeiten der Unterbringung gesehen hatte. Seine intensive Beschäftigung mit der Corveyer Geschichte sowie die engen Kontakte zur Landesgeschichtsforschung führten schließlich im Jahre 1826 auf sein Bestreben hin zur Gründung des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens.
1819 erschien im Druck sein erstes großes historisches Werk, die „Geschichte der gefürsteten Reichsabtei Corvey und der Städte Corvey und Höxter“. Wigand wird zu Recht als einer der Väter der westfälischen Landesgeschichtsschreibung genannt. Ihm ist es im erheblichen Maße zu verdanken, dass man vermehrt begann, sich intensiv mit der Erforschung der Vergangenheit auseinanderzusetzen. 1833 endete mit seiner Versetzung als Stadtgerichtsdirektor nach Wetzlar seine Höxteraner Zeit. In Wetzlar verfasste er seine Biografie „Denkwürdigkeiten aus einem bescheidenen Leben“, die wertvolle Hinweise zu seiner Arbeit in Höxter und Corvey gibt. 1863, drei Jahre vor seinem Tod, traf er den neuen Corveyer Bibliothekar Heinrich Hoffmann von Fallersleben und verkaufte ihm neben drei Handakten über seine Corveyer Tätigkeit auch etliche Bücher und Handschriften aus der früheren Bibliothek der Reichsabtei.
Hubertus Grimm
Literatur:
Hans-Joachim Brüning, Paul Wigands Tätigkeit in Bibliothek und Archiv zu Corvey. In Westf. Zeitschrift Band 124/125, 1974/1975, S. 9-28.
Jürgen Ehrhardt, Paul Wigand als Jurist und Rechtshistoriker. (Hessische Forschungen zur Landesgeschichte, Bd. 8) Melsungen 1968.
Thema 47: Eisenbahn und Schifffahrt
Eisenbahn und Schifffahrt - Der Bau der Eisenbahn in preußischer Zeit
Blick auf Corvey© Stadt HöxterNach der Zerstörung der Stadt Corvey und dem Niedergang der Abtei verfiel das Gelände im Corveyer Weserbogen in einen Jahrhunderte langen Dornröschenschlaf. Auch nach dem Übergang des ehemaligen Fürstentums Corvey 1815 an Preußen blieben einschneidende Veränderungen auf dem ehemaligen Stadtareal, das landwirtschaftlich genutzt wurde, zunächst aus. Diese traten erst mit dem Bau der Eisenbahnlinie Altenbeken-Kreiensen 1863-1865 ein. In Corvey standen nur noch das Barockschloss und die Klausur, die ehemalige Kloster- und jetzige Pfarrkirche, die Domäne sowie der Alte und der Neue Krug, die alle nach dem Dreißigjährigen Krieg entstanden sind und die sich seit 1820 im Besitz des Landgrafen Viktor Amadeus von Hessen-Rotenburg und seiner Erben (seit 1840 Haus Ratibor) befinden. Durch den preußischen Eisenbahnbau wurde die ländliche Idylle aufgebrochen. Der Ausbau der Weser für die Güter- und Personenschifffahrt, die Errichtung der Eisenbahnlinie Holzminden-Scherfede am östlichen Weserufer sowie u. a. der Schutzhafenbau taten ein Übriges, um den Nahbereich der Reichsabtei modern zu überprägen.
Schutzhafen© Stadt HöxterMit dem Neubau der 1673 zerstörten Weserbrücke von Höxter (1831) und mit der Eisenbahn verknüpften Magistrat und Bürgerschaft von Höxter glänzende Aussichten für die Zukunft ihrer Stadt. Die Weser, die sich bis weit in das 19. Jahrhundert hinein noch in einem weitgehend natürlichen, unregulierten Zustand befand, galt nach wie vor als wichtige Verkehrsstraße. Doch erst geraume Zeit nach dem Erlass der „Weserschiffahrtsakte“ durch Preußen, Braunschweig, Hannover, Lippe und Hessen (1823) sollte die Schifffahrt auf der Weser einen kräftigen Aufschwung erfahren. Grundlegendes Hindernis bildete die Uneinigkeit der Anrainerstaaten im Hinblick auf eine einheitliche Strom- und Uferbauordnung.
Bereits seit 1852 engagierten sich Bürger aus Höxter, mit Herzog Viktor I. von Ratibor an der Spitze, und Holzminden für eine Eisenbahnlinie vor ihrer Haustür. Von dieser erhoffte man sich verstärkten wirtschaftlichen Aufschwung. Der Direktion der „Westphälischen Eisenbahn“ war an der Verbindung der östlichen und westlichen Provinzen Preußens unter Umgehung des Territoriums des Königreichs Hannover gelegen. Im Frühling 1863 begannen die Arbeiten zum Bau der Eisenbahnbrücke. Zur Steingewinnung für die drei steinernen Brückenpfeiler wurde ein alter Steinbruch unmittelbar östlich der Weser erneut in Betrieb genommen. Der eiserne Überbau wurde nach Skizzen des bekannten Bauingenieurs Johann Wilhelm Schwedler (1823-1894) entworfen und auf der Gutehoffnungshütte in Sterkrade bei Oberhausen ausgeführt. Zur gleichen Zeit entstand zwischen Höxter und Corvey das repräsentative Bahnhofsgebäude im Stil des Historismus. Der östlich anschließende Güterbahnhof wurde teilweise auf ehemaligem Corveyer Stadtareal errichtet. Am 1. Oktober 1864 wurde die Strecke Altenbeken-Höxter eingeweiht und am 1. Juli 1865 die Eisenbahnbrücke fertig gestellt, womit der Lückenschluss nach Osten erfolgt war. Die Bahnlinie Holzminden-Scherfede folgte 1876.
Mit dem Eisenbahnbau entstand eine spürbare Konkurrenz für den Güterverkehr auf der Weser. Davon ausgenommen war die Flößerei, die große Mengen Holz u. a. aus dem Solling flussabwärts führte. Oberhalb von Hameln hielt man trotz der allgemeinen Einführung von Dampfschiffen seit 1843 bei Gütertransporten zunächst noch am herkömmlichen Treideln fest, wobei Schiffe mit Pferden vom Ufer aus gezogen wurden. Uferbefestigungen und das Anbinden von Werdern sind schon seit dem späten Mittelalter überliefert. In den 1860er Jahren setzte dann ein systematischer Weserausbau ein. Während es in Höxter einen Hafen mit Kaimauern gab, der dem Güterumschlag diente, entstand das Corveyer Hafenbecken um 1901 zum Schutz der Schiffe vor Eisgang im Winter.
Angesichts der neuen Entwicklungschancen herrschte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der neu-preußischen Kreisstadt Höxter großer Optimismus. Zichorien- und Papierfabriken siedelten sich an, nach dem Eisenbahnbau Gummifäden- und Zementfabriken. Mit der Gründung der Baugewerkschule (1864) und des Gymnasiums (1867/72) entstanden neue Bildungseinrichtungen. Die weitgesteckten Hoffnungen erfüllten sich aber nur teilweise, denn im engen, hochwassergefährdeten Wesertal war urbanes Wachstum nur eingeschränkt möglich.
Michael Koch, Stadtarchiv
Literatur
Hermann Keller, Weser und Ems, ihre Stromgebiete und ihre wichtigsten Nebenflüsse. Eine hydrographische, wasserwirtschaftliche und wasserrechtliche Darstellung. Berlin 1901.
Ernst Würzburger, 125 Jahre Eisenbahn Höxter-Altenbeken. In: Jahrbuch Kreis Höxter 1990, 1989, S. 297-306.
Abbildungserklärungen:
Abb. 1
Südöstliche Ansicht Corveys von Carl Schlickum für die zweite Auflage von „Das malerische und romantische Westfalen“ (1872).
Abb. 2
Bau des Hafenbeckens.
Thema 48: Hoffmann von Fallersleben
Hoffmann von FallerslebenDenkmal auf der Grabstätte Hoffmanns und seiner Frau in Corvey (Foto: M. Stoltz, 2012)© Stadt HöxterAm Wall steht am westlichen Ende der Corveyer Allee seit 1903 ebenso ein Denkmal wie seit 1911 auf seinem Grab neben der Corveyer Pfarrkirche. Am 1. Mai 1959 erklang erstmals das zu Ehren Hoffmanns eingerichtete Glockenspiel vom Rathausturm. Seither erklingen seine Kinderlieder viermal am Tag, wechselnden Inhalts im Sommer- und Winterhalbjahr. Seit 1986 gibt es in Höxter die Hoffmann-von-Fallersleben-Realschule und seit dem 1. Mai 2002 wird alljährlich die Hoffmann-von-Fallersleben-Rede in Corvey gehalten. – Spuren und Erinnerungsorte, die wir in Höxter häufig nur noch am Rande wahrnehmen.
Wer war dieser Mann, der sich um Corvey und um Deutschland verdient gemacht hat?
Hoffmann trat am 1. Mai 1860 sein Amt als Bibliothekar von Corvey beim Herzog Viktor I. von Ratibor an. Man war sich schnell einig geworden: 300 Taler, freie Wohnung (sechs Räume am Äbtegang, nahe der Bibliothek, gen Osten gerichtet), zehn Klafter Brennholz (heute etwa 30-40 Raummeter Holz). Damals war der bereits 62 jährige mit seiner 29 jährigen Nichte Ida zum Berge verheiratet. Sie war schwanger und gemeinsam hatten sie bereits den 5 Jahre alten Franz. Hoffmann war glücklich, privat wie beruflich. Als freier Dichter war er bekannt und gefeiert, er hatte eine gesicherte Existenz.
Auf ein bewegtes Leben blickte er zurück: Professor für Germanistik und Ordinarius in Breslau, 1842 wegen seiner politischen Lyrik aus dem preußischen Staatsdienst entfernt, seine Bezüge wurden gestrichen, in den folgenden Jahren geheimdienstlich beobachtet, vielfach aus den deutschen Staaten ausgewiesen. Dennoch kann er erfolgreich seine Lyrik publizieren. Am Lebensende kann er über 200 Buchpublikationen nachweisen. Getragen wird er von einem Netz aus Sympathisanten.
Er war ein fortschrittlicher Geist des sogenannten Vormärz, der Zeit vor der März-Revolution 1848. Ziel war die Abkehr von einer autoritären Staatsregierung in einem geeinten Deutschland. So entsteht 1841 auf Helgoland das „Lied der Deutschen“. Das Bild des verarmten, verfolgten, einsamen Dichters zu Beginn seiner Corveyer Zeit entstammt mehr einer entsprechenden Ikonographie denn der Wirklichkeit. Nach der 1848er Revolution wird er vom preußischen Staat rehabilitiert, zwar nicht mehr eingesetzt in seine Professur, doch ausgestattet mit seinem Altersruhegeld, das er bis zum Tode erhalten wird.
Und dann passiert das Unglück seines Lebens: Franz hat die Masern; am 24. Oktober 1860 wird das zweite Kind geboren, tot; noch im Wochenbett stirbt am 27. Oktober Ida, am Vorabend des gemeinsamen Hochzeitstages. Hoffmann fällt in tiefe Trauer.
Seine Schwägerin wird von nun an den Haushalt führen und Franz erziehen. Hoffmann verfasst seine Erinnerungen „ Mein Leben“. Die Aufgabe als Bibliothekar erfüllt er mit großer Akribie, ca. 65.000 Bände werden handschriftlich von ihm katalogisiert. Seine Karteien werden heute sorgsam im Schloss aufbewahrt. Er steht in regem Austausch mit seinem Dienstherrn, der sich meist in Rauden, Schlesien, aufhält. Bedeutend ist der Bestand der Corvey-Literatur, den er Paul Wigand abkaufen kann. Wertvoll sind die mittelalterlichen Handschriften, so der Sachsenspiegel, die er erwirbt.
Er liebt Corvey, das Weserbergland, und er ist seinem Dienstherren gegenüber äußerst loyal. In Höxter verkehrt er im Berliner Hof. Als fröhlicher Zecher und wortgewaltiger alter Herr wird er wohl bekannt gewesen sein. Kritiker erkennen in ihm allerdings nicht mehr den alten Hoffmann, der gegen die Obrigkeit aufbegehrt.
Die technischen Errungenschaften seiner Zeit, der Eisenbahnbau insbesondere, faszinieren Hoffmann. Aufmerksam verfolgt er den Anschluss Höxters an das Eisenbahnnetz. Mit der Eisenbahn kommt der Kaiser 1865 zu Besuch, ein später Höhepunkt in seinem Leben. Die Plagen des Alters in Form degenerativer Gelenkbeschwerden haben ihn nicht verschont. Die Reichsgründung 1871 durfte er noch erleben, auch wenn seine politischen Erwartungen enttäuscht wurden. Am 8. Januar 1874 erleidet er einen ersten Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholen wird. Er stirbt am 19. Januar 1874.
Wer will, lausche an einem Sommerabend um 20:55 Uhr am Rathausturm der Melodie von Hoffmanns Gute-Nacht-Wunsch:
"Abend wird es wieder, über Wald und Feld
Säuselt Frieden nieder, und es ruht die Welt.
Nur der Bach ergießet, sich am Felsen dort,
Und er braust und fließet immer, immer fort.
Und kein Abend bringet Frieden ihm und Ruh,
Keine Glocke klinget ihm ein Rastlied zu.
So in deinem Streben bist, mein Herz, auch du:
Gott nur kann dir geben wahre Abendruh."
Michael Stoltz
Literatur:
Bernt Ture von zur Mühlen, Hoffmann von Fallersleben. Biographie. Göttingen 2010.
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